Wochenmarkt Luzern: «Bitte Fahrrad schieben» - ich doch nicht.    

Rücksichtslose Velofahrer
ängstigen ältere Fussgängerinnen

Wer in der Stadt Luzern zu Fuss unterwegs ist, ärgert sich täglich über Velofahrerinnen und Velofahrer. Sie missachten Rotlichter und Fahrverbote, befahren Trottoirs und Fussgängerstreifen, sind mit E-Bikes oft zu schnell unterwegs. Wie Abhilfe schaffen?

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Am Morgen, kurz nach acht. Ich bin auf dem engen, abschüssigen Schirmertorweg unterwegs in die Altstadt. Unversehens fährt ein jüngerer Velofahrer eine Handbreit an mir vorbei. Es kümmert ihn nicht, dass hier ein allgemeines Fahrverbot gilt. Und er ist leider keine Ausnahme, was regelwidriges Velofahren in der Stadt Luzern betrifft. Verstösse liessen sich täglich rapportieren. Sie befahren Fussgängerstreifen und Trottoirs, missachten Rotlichter, fahren mit übersetzter Geschwindigkeit durch Fussgängerzonen. Auf dem Wochenmarkt, ein paar Minuten später, fahren drei Velos ungeniert durch die Marktstände; die Empfehlung, «bitte Fahrrad schieben», wird ignoriert.

Fussgänger fühlen sich gefährdet
Das Missbehagen über jene Velofahrerinnen und Velofahrer, die rücksichtslos unterwegs sind, ist unter der älteren Bevölkerung verbreitet, wie die repräsentative Umfrage im Hinblick auf die Aufnahme ins WHO-Netzwerk «Age-friendly Cities» verdeutlichte.* Fast die Hälfte der Befragten fühlt sich durch Velos, E-Bikes oder Trottinette gefährdet, am rechten Seeufer sind es sogar 58 Prozent. Für einen Drittel sind die Velowege nicht sinnvoll von den Gehwegen getrennt. Wie gross der Unmut der älteren Fussgängerinnen und Fussgänger gegenüber Velofahrenden ist, zeigte sich in den persönlichen Bemerkungen zur WHO-Befragung sowie bei den Workshops.

„Leider muss ich feststellen, dass nicht etwa die Autofahrer, sondern die Velofahrer und auch Velofahrerinnen die rücksichtslosesten Verkehrsteilnehmer sind“, ärgerte sich ein Teilnehmer. Er sei bereits dreimal angefahren worden, zweimal mit Fahrerflucht. Ein anderer Mann (81 Jahre alt) berichtet, er sei bereits zweimal auf dem Trottoir angefahren worden. Besonders ärgern sich die Fussgänger über Velofahrer, die auf Trottoirs fahren, die Fahrverbote, zum Beispiel am Quai oder in der Weggisgasse, nicht einhalten, das Rotlicht missachten oder zu schnell mit E-Bikes unterwegs sind, zum Beispiel auf dem Xylophon-Weg nach Reussbühl. Es sei nicht angenehm, auf dieser schnellen Strecke als Fussgänger unterwegs zu sein. Auch beim Überqueren der Taubenhaus- oder der Bruchstrasse, die neu als Velostrassen definiert sind, fühlen sich ältere Personen aufgrund der schnellen E-Bikes oft unsicher. Kommt dazu, dass viele Velos über keine Glocke verfügen und somit die zu Fuss Gehenden nicht warnen können. Seit 2017 wird die „gut hörbare Glocke“ gesetzlich nicht mehr vorgeschrieben.

Velofahren nichts für ältere Personen
 
Natürlich gibt es Velofahrende, die rücksichtsvoll fahren, die Verkehrsregeln beachten und das Velo auf dem Markt schieben. Es kommt sogar vor, dass eine Velofahrerin freundlich lächelt und vor einem Fussgängerstreifen anhält, um dem Fussgänger den Vortritt zu lassen. Es mir allerdings kürzlich passiert, dass ich, für einmal mit dem Velo unterwegs, einer älteren Frau im Bruchquartier, wie vorgeschrieben, an einem Fussgängerstreifen den Vortritt lassen wollte - und prompt links von einem eiligen Velofahrer überholt wurde; es ist nichts passiert. Auch ist nicht zu leugnen, dass die Velofahrenden in Luzern alles andere als privilegiert sind. Vor allem für ältere Frauen und Männer ist das Velo offensichtlich kein sicheres und attraktives Fortbewegungsmittel. Kaum ein Viertel der 65plus ist mit dem Zweirad unterwegs, in Littau sind es sogar nur knapp 15 Prozent, wie die repräsentative Befragung ergab. Bei den 80-jährigen und älteren Personen sind es so wenige, dass sie statistisch nicht erfasst werden konnten.

Luzern sei keine velofreundliche Stadt, kritisieren sie. Es gebe viele kritische Übergänge und heikle Passagen mit den Autos. So sei die Situation für die Velos etwa beim Bahnhof, auf der Seebrücke oder beim Schwanenplatz „katastrophal und lebensgefährlich“. Nötig sei ein ausgebautes Veloweg-Netz, mit mehr und breiteren Velostreifen oder mit eigentlichen Velobahnen. Dies fordert auch die Volksinitiative „Luzerner Velonetz jetzt!“, die Pro Velo Luzern im letzten Herbst mit 1617 Unterschriften eingereicht hat. „Dank sicheren Velobahnen weichen Velofahrende nicht mehr auf Trottoirs aus, sodass sich auch Fussgängerinnen und Fussgänger ungehindert bewegen können“, schrieb die Grüne Korintha Bärtsch, Co-Präsidentin von Pro Velo Luzern.

„Fussgänger bleiben Freiwild“
Linksgrün hat sich allerdings in den letzten Jahren vor allem für den Veloverkehr stark gemacht – auf Kosten des Fussverkehrs. So wollten SP und Grüne in der Fussgängerzone am Quai das allgemeine Fahrverbot mit dem Zusatz „Velos gestattet“ faktisch aushebeln. Dank einer Petition von Fussverkehr Schweiz, unterzeichnet von 2352 Personen, wurde dieses Ansinnen gebodigt. Trotzdem wird das Fahrverbot am Nationalquai oft missachtet und anscheinend auch nicht sanktioniert. Auf der Hertensteinstrasse konnte Linksgrün vor kurzem jedoch einen Teilerfolg buchen. Grüne und SP hatten gefordert, in dieser stark frequentierten Fussgängerzone die Einbahnregelung aufzuheben und den Velofahrenden freie Fahrt in beiden Richtungen zu gewähren. Der Stadtrat gab teilweise nach, nun dürfen die Velos von 20 bis 10 Uhr (statt von 21 bis 9 Uhr) auch vom Museumsplatz zum Falkenplatz fahren – für die zu Fuss Gehenden wird es dadurch nicht gemütlicher. „Die Fussgänger bleiben Freiwild, der Mehrheitswunsch der Bürger wird nicht beachtet“, ärgerte sich ein Leserbriefschreiber in der „Luzerner Zeitung“.

Bei der WHO-Befragung der älteren Bevölkerung zeigte sich, dass vor allem der sogenannte Mischverkehr, also wenn sich Fussgängerinnen und Velofahrer den öffentlichen Raum teilen müssen, höchst umstritten ist. Insbesondere ältere Personen, aber auch Familien mit Kleinkindern, fühlen sich dann bedrängt und unwohl. Das gilt nicht nur für die Hertensteinstrasse. Besonders verpönt sind diese Mischzonen auf dem Jesuitenplatz oder an der Bahnhofstrasse. Deshalb müssten sie soweit als möglich aufgehoben und die Wege für Velos und Fussgänger getrennt werden, fordert die ältere Bevölkerung. Ältere Frauen und Männer sind in der Stadt Luzern vorwiegend zu Fuss unterwegs, wenn sie aus dem Haus gehen (95 Prozent).

Lenkverbot für Velofahrer?
Auch auf nationaler Ebene hat das Velo mehr politischen Rückenwind als der Fussverkehr. So dürfen Velofahrer, wenn es so signalisiert ist, neuerdings bei Ampeln auch bei Rot rechts abbiegen, die Fussgänger werden sich hüten müssen. Fahrlässiger ist, dass der Bundesrat auf Anfang 2021 das Trottoir für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr fürs Velofahren freigegeben hat, bislang durften nur Kinder im Vorschulalter mit Kinderrädern oder Spielzeugvelos auf dem Trottoir fahren. Diese Lockerung sei kontraproduktiv, kritisierte etwa der Verkehrs-Club der Schweiz, weil das Konfliktpotenzial in Bezug auf ältere Menschen und Menschen mit Einschränkungen grösser werde. Von einer „Hiobsbotschaft“ sprach der Blinden- und Sehbehindertenverband, Unfälle seien programmiert. Diese Freigabe des Trottoirs ist umso ärgerlicher, weil in den letzten Jahren E-Trottinetts sowie Skate- und Kickboarder das - oft zu schmale - Trottoir zunehmend unsicher machen. Ganz abgesehen von parkierenden Autos und Reklametafeln, die den ohnehin knappen Platz neben der Fahrbahn versperren.

Was kann die Stadt Luzern tun, um das gespannte und oft emotionale Verhältnis zwischen den zu Fuss Gehenden und den Velofahrenden zu verbessern? Im Hinblick auf das WHO-Label einer altersfreundlichen Stadt plädieren die Frauen und Männer der Generation 65plus für verstärkte Sensibilisierungskampagnen, um bei den Velofahrenden mehr Rücksichtnahme zu verlangen. Aber auch eine stärkere Polizeipräsenz und Sanktionen für fehlbare Velofahrer und Velofahrerinnen seien dringend nötig. Braucht es dazu neue Paragrafen? Nein, antwortete der Bundesrat im November 2019 auf eine Motion von SVP-Nationalrat Gregor Rutz. Das geltende Recht biete genügend Handhabe, um gegen fehlbare Velofahrerinnen und Velofahrer vorzugehen. In gravierenden Fälle könne die Behörde schon heute ein Lenkverbot aussprechen und das Radfahren für mindestens einen Monat untersagen. Jedenfalls müssten keine schärferen Strafen eingeführt werden. Vielmehr, so der Bundesrat, „sollen die bestehenden Regeln noch besser durchgesetzt werden“.   

Auf dem Heimweg fährt mittags auf der Hertensteinstrasse unversehens eine Velofahrerin stadteinwärts an mir vorbei, ziemlich zügig und ziemlich knapp; ich hatte sie nicht erwartet - stadteinwärts gilt tagsüber ein Fahrverbot. Ein paar Schritte weiter, wieder auf dem schmalen Schirmertorweg, komme ich mit einer entgegenkommenden Nachbarin ins Gespräch. Wir stehen uns, mit dem nötigen Corona-Abstand gegenüber - und so kann der Velofahrer, der trotz Fahrverbot ungeniert auf dem Sattel bleibt. knapp zwischen uns hindurch fahren. – 14.5.2021

beat.buehlmann@luzern60plus.ch

*Bericht "Altersfreundliche Stadt Luzern"