Alice Königs – Erinnerungen einer Weggefährtin

Agatha Fausch, Sozialarbeiterin, 10 Jahre im Grossen Stadtrat, im Vorstand der Grünen Luzern, kannte Alice Königs fast ein Berufsleben lang aus der Nähe. Sie hat aufgeschrieben, was ihr jetzt, nach dem Tod der Freundin alles wieder aufgetaucht ist. Und es ist lesenswert, beeindruckend auch, wie die Sozialarbeiterin Alice Königs ihren Beruf und ihre Aufgaben anpackte, vieles an der langen Leine liess, aber auch deutlich werden konnte, wenn es ihr angezeigt erschien. Genau so hat man sie auch im Forum Luzern60plus erlebt.

Von Agatha Fausch

Wie ich Alice kennen lernte
Ich lernte Alice kennen, als ich 1977 ein Praktikum in der Innerschweiz suchte, um meine Ausbildung  zur Sozialarbeiterin in Zürich abzuschliessen. Vorher war ich Heilpädagogin an der Heilpädagogischen Schule in Rapperswil. Für unsere Familienplanung schob ich eine Ausbildungszeit, die Abendschule für Soziale Arbeit 1974/1978, ein. Viktor Schiwov vom VPOD empfahl mir Alice als Praxisausbildnerin in der Gemeinde Kriens. Ich war dankbar dafür.

Das Vorstellungsgespräch
Ich komme von der Ausbildung in Zürich. Alice: Ja, das ist doch prima, ich komme auch von dort.

Ein Teilzeitpraktikum und eine kleine Tochter ?  Ja, das ist neu, doch sicher machbar. Im Bellpark gibt es eine gute Ki-Ta.

Mein erstes Praktikum in der Geronto-Psychiatrie, ich habe keine Erfahrung in der Gemeinde-Sozialarbeit? - Kein Problem, das ist spannend, dann lernst Du viel Neues!

Kurz, Alice  empfängt mich unvoreingenommen und irgendwie mit offenen Armen. Die damaligen Vorurteile gegenüber „Doppelverdienerinnen“ und „erwerbstätigen Rabenmüttern“ war für Alice kein Thema. Sie nahm mich ernst mit meinem  Vorwärtsgehen punkto Gleichstellung, auch als junge Mutter.

Im Februar 1979 hatte Alice für mich auf dem Sozialdienst ein kleines Büro im „Lindenpic“ gegenüber dem  Gemeindehaus organisiert, grad gegenüber ihren Beratungsräumen. Das hatte Konzept. Für Alice war es wichtig, die Beratungsarbeit in der Gemeinde – zwar verbunden mit dem Sozialamt, doch räumlich getrennt – einzurichten. Das war gelebte „Niederschwelligkeit“. Anträge für Sozialhilfe wurden einmal wöchentlich mit dem Sozialvorsteher im Gemeindehaus besprochen. So lernte ich „life“ argumentieren gegenüber gewählten Milizbehörden.

Begegnungen mit Empathie
Alice war immer wohlwollend, nicht wertend. Sie beherrschte die Kunst, zu erklären, weshalb manche Menschen anders leben, der Armut nicht entkommen, und dass ihre Bewältigungsstrategien nicht immer „fadegrad“ verlaufen. Den Klientinnen begegnete sie empathisch. Sie war an ihrem Leben und den damit verbundenen Drucksituationen interessiert und konnte – wenn nötig – auch mal streng sein und Grenzen setzen; dies bestimmt und höflich.

An meinem ersten Arbeitstag karrte mich Alice mit ihrem Deux Cheveau durch Kriens. Sie zeigte mir, wo Klient_innen und wo besser gestellte Menschen wohnen, die Schulen, die Altersheime, die Ki-ta  aber auch die Badi und die Kirche Hergiswald. Es war ihr wichtig, dass ich verstand, in welchem kulturellen Umfeld sich meine Arbeit abspielen wird.

Im darauffolgenden Jahr hat sie mich – an der langen Leine – durch das Praktikum begleitet, hat mich machen lassen und mich zwischendurch hinterfragt.  Wenn ich Klienten oder Klientinnen überschätzte oder gegen ignorante Rollenträger ankämpfte, löffelte sie meine Suppe nie aus, sondern suchte mit mir nach Umwegen, um das Ziel doch noch zu erreichen, - oder auch mal sein zu lassen.

Alice hat mich ermutigt, Sozialarbeit nicht nur am Schreibtisch und zwischen Formularen „abzuarbeiten“, sondern nach kreativen und unorthodoxen Lösungen zu suchen. Prioritär war für Alice, dass ich als Berufsanfängerin nicht überengagiert in eine Richtung steuerte, dass ich lernte, zu warten und den Betroffenen half, ihren eigenen Lösungsweg zu suchen. Im Studium hiess dieser Ansatz „Empowerment.“

Nach dem Praktikum
Nach dem Praktikum unterstützte mich Alice in meiner Stellensuche auf dem damals kargen Arbeitsmarkt in der Innerschweiz. Sie ermutigte mich, in Meggen bei der kürzlich verstorbenen Sozialvorsteherin (damals Armenpflegerin!) Yvonne Dublanc anzuklopfen, um dort den Gemeinde-Sozialdienst aufzubauen. Das wagte ich. Ich konnte das Muster „Sozialdienst Kriens“ eins zu eins von Alice übernehmen und in Meggen – räumlich getrennt vom Gemeindehaus und dem Sozialamt - den Sozialdienst positionieren. Alice stand mir  - wenn ich Fragen hatte – immer unterstützend zur Seite.

Wenige Jahre später  unterrichtete Alice an der Tagesschule für Soziale Arbeit an der Rosengartenhalte zum Thema „Materielle Probleme“. Sie kam auf mich zu und fragte mich an für ein Co-Teaching. Mit grosser Freude entwickelten wir aus unserer Praxiserfahrung fiktive Sozialhilfe-Situationen. Darin ging es stets um mehr als um Zahlen und Fakten. Die beschriebenen Personen waren für die Studierenden eine Herausforderung punkto Werte und Normen für die Anwendung des damaligen Armenrechts (von 1935) das im Kanton Luzern bis im 1990 seine Gültigkeit hatte.

Parallel dazu war Alice als Kantonsrätin tätig. Sie arbeitete dort während Jahren an der Erarbeitung des neuen Sozialhilferechts mit. Dieses enthielt erstmals Instrumente, wie Alimenten-Inkasso, Alimenten-Bevorschussung, eine Mutterschafts-Beihilfe, die den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung trugen. Vieles davon trug die Handschrift von Alice.

Gabo Königs - ihr Lebensgefährte
Gabo Königs, Alice’s Lebensgefährte,  kämpfte während vielen Jahren an der Seite von Alice bei der „Union Helvetia“ ebenso konsequent und entschlossen für einen  Gesamtarbeitsvertrag im Gastgewerbe. Die beiden kannten sich in Fragen von Armut in der Schweiz bestens aus und unterstützen sich gegenseitig.

Alice lernte Gabo in Bolivien kennen, wo sie während mehreren Jahren in der Entwicklungshilfe einen Einsatz leistete. Gabo war dort – so meine Erinnerung - katholischer Pfarrer.

In Kriens lebten die beiden in einer Eigentumswohnung im Hochhaus – nahe der Badi. Alice pflegte einen Pflanzblätz mit Gemüse und Blumen gleich nebenan. Das war die Zeit, in der Alice ihre Tätigkeit wechselte. Sie begann - als Nichtjuristin - am Amtsgericht Kriens ihre Arbeit als Richterin im Teilzeitpensum. Sie freute sich, die Sozialarbeit, die sie oft in längeren Beratungsprozessen führte, auszutauschen mit der Auseinandersetzung von konkret unlösbaren Situationen, in denen eine richterliche Entscheidung zur Veränderung führt.

Etwa 2003 radelte Gabo – frisch pensioniert – mit dem Velo ins Dorf um Brot zu holen. Er stürzte vom Velo, eine Herzschwäche überfiel ihn und brachte ihn zu Tode. Polizisten läuteten an Alice’s Wohnungstür, um ihr das Unglück mitzuteilen. Alice lehnte sich gegen die unfassbare Nachricht auf, war empört, entsetzt und unendlich traurig. Sie rief mir an. Wir weinten. Alice organisierte eine würdige Beerdigung für Gabo in der katholischen Kirche in Kriens. Ich will in nächster Zeit Gabo’s Grab auf dem Friedhof in Kriens aufsuchen. Alice und Gabo sind auf die gleiche Weise von dieser Welt gegangen.

Alice „verwitwet“
Alice konnte in kurzer Zeit den Abschied von Gabo annehmen und sich von  gemeinsam geplanten Pensionierungsprojekten verabschieden. Es war bald klar, dass Alice ihre gemeinsame Wohnung in Kriens aufgab. Sie sucht sich eine neue Bleibe mitten in der Neustadt von Luzern. Zuerst an der Winkelriedstrasse, seit etwa 10 Jahren am Kaufmannweg. Dort engagiert sie sich als aktive Nachbarin gegen die geplante Handyantenne auf dem Dach. Täglich sitzt Alice im Arlecchino, raucht ihre „Zigi“ und plaudert mit den Anwesenden über Gott und die Welt. Alice ist rasch zu Hause in der Neustadt. Sie lebt – wie früher im Beruf – zusammen mit ihren Nachbarn in herzlichem Austausch und gleichzeitig mit Zurückhaltung. So kam es, dass Alice wenige Tage vor ihrem Tod mit zwei jungen Nachbarn eine Reise nach Venedig unternahm und die beiden danach zu einem gemeinsamen Essen in ihre Wohnung einlud.  Es kam nicht mehr dazu, Alice konnte die Türe nicht mehr öffnen.

Nach der Arbeit am Amtsgericht Kriens und im Anschluss an ihr Engagement im Kantonsrat übernimmt Alice verschiedene Mandate im Umfeld der Sozialen Arbeit. So arbeitet sie als umsichtige Präsidentin des SAH, engagiert sich im Stiftungsrat der HSLU Soziale Arbeit und setzte sich dort in der Zeit der Hochschulentwicklung mit  konstruktiv-kritischer Stimme für die Anliegen der Praxis ein. Später wirkt sie im Vorstand des Forums Luzern60plus mit und unterstützt die Präsidentin Christina von Passavant in ihrem Anliegen, die älter werdenden Luzerner und Luzernerinnen als Bewegung zu verstehen und das Forum als Möglichkeit der Partizipation zu nutzen.

Manchmal unbequem
Wo Alice mitarbeitet, bringt sie sich ein, pointiert, manchmal unbequem - immer an die Anliegen von Zugewanderten, an die von Armut Betroffenen, an Benachteiligte - erinnernd, ohne zu klagen; einfach, sachlich, bestimmt. 

Mit Freunden und Freundinnen und auch solo geniesst Alice das Leben, geht ins Konzert, ins Theater, ins Kino und macht wunderbare Reisen nach Italien, durch Europa und auch mal über die Seidenstrasse. Vor nicht langer Zeit hat sie ihre alten Freunde in Bolivien besucht.

Kranken Weggefährtinnen steht Alice bei, verlässlich und mit feiner Zurückhaltung. Für Alice ist das selbstverständlich, sie geht mit und ist nach getaner Arbeit traurig, - steht auf und findet neue Zuversicht und Freude im Leben. Ich vermisse meine heitere Freundin Alice!

Was jetzt ?
Dass Alice, meine langjährige Weggefährtin jetzt das Weite sucht, gestorben ist, hinterlässt mich ratlos. Dass keine Mailnachrichten mehr kommen, dass wir uns nicht mehr treffen und tratschen, dass wir unsere Erfahrungswelten nicht mehr austauschen, macht mich traurig. (M)ein Leuchtturm sendet nicht mehr, ist erloschen.
15. November 2019