„Das isch Wurm töte!“

Von Karin Winistörfer

Existenzielle Fragen stehen bei uns zurzeit hoch im Kurs. So etwa: Der Wert des Lebens. Das Thema kommt regelmässig auf, wenn wir essen. Dazu ist vielleicht noch wichtig, zu sagen, dass wir Eltern Vegetarier sind. Die Kinder können zwischendurch Fleisch essen. Eine der Favoriten sind, wenig verwunderlich, Chipolatas. „Das isch Bébésäuli töte“, ruft der Kleine jeweils empört aus. Und beisst herzhaft in das gebratene Würstchen.

Bei der Milch ist das Ganze etwas entspannter. „Das isch Chue mälche“, bescheidet der Dreijährige fachmännisch. Wobei er im Laden manchmal ins Grübeln gerät, wenn auf der Milchflasche statt einer Kuh eine Geiss oder ein Schaf abgebildet ist.

Ganz sonderbar ist der Fall der Schildkröten. Die Packung war gefüllt voller knuspriger, goldgelb gebackener, verlockender Teig-Tierchen. Nach einem Schreckmoment meinte unser Sohn dann sehr erleichtert: „Das isch nid Schildchrott töte.“ Und futterte mit grossem Appetit.

Das mit den Tieren ist so eine Sache. Soll man sie essen, welche darf man nutzen und wie, empfindet das Teig-Imitat auch wie das Original? Das geht von Haus- und Bauernhof -, über exotischere Tiere bis hin zu Bienen und – Würmern. Solche glaubte mein kleiner Begleiter beim Einkaufen im Kühlfach geortet zu haben. „Das isch Wurm töte!“, meinte er, sichtlich irritiert, und zeigte auf die Auslage. Diesmal lag er knapp daneben: Im Kühler reihte sich Packung an Packung mit – Hackfleisch.

Existenziell kann es natürlich nicht nur am Familientisch werden. Sondern – Vorsicht, grosser thematischer Schlenker! – auch in der Politik. Vielleicht geht es dort nicht immer gleich um den Wert des Lebens, aber doch immer wieder mal um den Wert des Staates. Was manchmal gar nicht so weit entfernt ist. So etwa in der Diskussion der Frage, welche Leistungen der Staat erbringen soll: Eher eine Rundumversorgung mit grosszügigem Service von der Wiege bis zur Bahre? Oder doch lieber das Minimalprogramm, wobei man da eher von einem Stäätchen reden müsste, das nur interveniert, wenn sich seine Bürger allzu heftig auf die Mütze geben?

Der aktuelle nationale Wahlkampf gibt schönen Anschauungsunterricht: Schattierungen sind selten, es dominieren Schlagworte, so auch zur Rolle des Staats und seinen Kernaufgaben. Natürlich, man muss vereinfachen, um verstanden oder wenigstens wahrgenommen zu werden. Und doch erscheint mir die Chipolata-Szene als eigentliches Sinnbild für den Wahlkampf, vielleicht sogar für die öffentlich zelebrierte Politik: Empört sein und dann herzhaft zubeissen. Bald wissen wir, wessen Empörung am glaubhaftesten rüberkam, wer den grössten Appetit hatte, und bei wem schlicht der Wurm drin war.
27. September 2015

Zur Person
Karin Winistörfer, geboren 1974 in Biel, ist seit Herbst 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern. 2001 schloss sie das Studium der Geschichte mit dem Lizentiat ab. Bis 2012 war sie Journalistin und Redaktorin im Ressort Kanton der Neuen Luzerner Zeitung. 2012 bis 2014 absolvierte sie an der Universität Luzern einen Master in Methoden der Meinungs- und Marktforschung. Karin Winistörfer wohnt mit ihrem Partner und ihren zwei Kindern in der Stadt Luzern.