Der Turmbau zu Babel

Von Judith Stamm

Wenn ich mir all die Erklärungen zur heutigen Lage der Welt anhöre, wird mir schwindlig. Und ich wünschte mir, es könnte jemand für einige Zeit ein grosses Schweigen verordnen. Damit Raum geschaffen würde für das Nachdenken!

Und gleichzeitig geht mir der Gedanke an die Geschichte des Turmbaus zu Babel aus dem Alten Testament nicht aus dem Sinn. Sie ist kurz und steht am Anfang der Schöpfungsgeschichte. „Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte“ heisst es zu Beginn. Sie waren unterwegs, fanden eine Ebene und liessen sich dort nieder. Eine Stadt wollten sie da bauen und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, um sich damit einen Namen zu machen. Aber Gott wollte nicht, dass sie ein Volk waren und eine Sprache hatten. Denn dann würde ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen würden. Und er stieg hinab, verwirrte ihre Sprache und zerstreute sie über die ganze Erde. Ihre Stadt liessen sie unvollendet zurück, und sie wurde Babel, nämlich „Wirrsal“ genannt. Soweit, in abgekürzter Form, die Geschichte.

Ich bin weder in Theologie noch in Bibelauslegung bewandert. Aber wie viele andere Geschichten des Alten Testamentes spricht mich diese unmittelbar an. Sie ist mir von Kindsbeinen an vertraut. Ich bin überzeugt, dass sich die Menschen durch die Jahrtausende hindurch immer etwa ähnlich benehmen. Und dass uns deshalb die Erzählungen aus „grauer Vorzeit“ oft so aktuell vorkommen. Sie wollten sich also mit einem Turm mit einer Spitze bis zum Himmel „einen Namen“ machen und sich nicht über die ganze Erde zerstreuen.

Türme von heute: Gigantisches gemeinsam erbaut

Ja, da muss ich unweigerlich an all die berühmten Türme auf allen Kontinenten denken. Und dank Internet können wir uns ständig auf dem Laufenden halten, welcher denn gegenwärtig der höchste ist. Heute ist der „Buri Khalifa“ in Dubai, mit 830 Meter das höchste Bauwerk der Welt. Dabei gehe ich jetzt auf die unterschiedliche Verwendung der Begriffe „Bauwerk“ und „Turm“ gar nicht ein. Der Verlust des ersten Platzes zeichnet sich aber schon ab am Horizont. Der „Kingdom Tower“ in Dschidda, Saudi-Arabien, soll über 1000 Meter hoch werden. Die Fertigstellung ist auf 2017, vielleicht auch etwas später, geplant. Als Bewohnerin eines Berglandes muss ich beim Lesen dieser Daten jeweils etwas Atem schöpfen. Wie viel Zeit, Geld, Kraft, Energie und Genie wird da investiert, um künstlich auf eine Höhe zu kommen, die wir auf den Hügeln rund um unsere Städte bequem auf Schusters Rappen erreichen.

Faszinierend an diesen Projekten ist, dass sich immer wieder Menschen zusammen tun, um Gigantisches zu schaffen. Türme, hohe Bauwerke, sind ja nur ein Beispiel für diese Bestrebungen. Und offensichtlich können sich die betreffenden Menschen über das Ziel, die Mittel und die Wege dazu verständigen, in welcher Sprache auch immer. Bauwerke, Verkehrswege, Stauseen, Flugzeuge, Schiffe werden gebaut, immer grösser, immer effizienter, immer spektakulärer. Finanzen, Know-how, Ausführung liegen in den Händen verschiedenster Menschen, die alle auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, die sich verstehen, offensichtlich „dieselbe Sprache“ sprechen.

Sie reden zwar alle Englisch, aber verstehen einander nicht

Warum können wir uns nicht vornehmen, am weltweiten Frieden zu bauen wie an einem gemeinsamen gewaltigen Bauwerk? Dort, wo es um dieses Ziel geht, sprechen die Beteiligten meistens sogar dieselbe Sprache. Häufig ist die Sprache der Konferenzen, die sich mit diesem Projekt befassen, Englisch. Aber offensichtlich verstehen sich die Beteiligten trotzdem nicht. Sie sind sich vielleicht noch über das Ziel, nicht aber über die Mittel und Wege dazu einig. Und immer wieder gibt die kurze Geschichte des Turmbaus zu Babel zwar keine Erklärung, aber ein Sinnbild für das „Wirrsal“ ab, an dem wir  Menschen offensichtlich leiden.

2. Februar 2015