Fehleinschätzen

Von Karin Winistörfer

Die Vorzeichen stehen auf Sturm. 28 Gäste bei uns zu Hause. „32, mit uns", korrigiert mich mein Partner trocken. Nun gut, 32. Kommt ja eigentlich auch nicht mehr so drauf an, ob 28 oder 32.

Da beide Kinder fast gleichzeitig Geburtstag feiern, dachte ich mir, wickeln wir dies pragmatisch mit einem gemeinsamen Fest ab. Und weil ich nichts von klassischen Kindergeburtstagen halte, wo die Eltern die Kinder abgeben, vorbereitete Spiele gespielt und die Kinder nach zwei Stunden wieder abgeholt werden (wohl mangels Sinn für Konventionen, und weil ich für die Durchführung eines solches Anlasses weder die Begabung noch die Nerven noch die nötigen Sachversicherungen oder aber grossen Renovationsbedarf habe) –, aus diesen Gründen gibt's Brunch für alle.

Bei zwei geburtstagenden Kindern, ihren besten Freundinnen und Freunden, deren Geschwister und Eltern sowie Gotten und Göttis mit Familie summiert sich das schnell zu einer stattlichen Zahl. So wie nun eben 28. Nein, 32. Erneuter Verdrängungsversuch, erneut gescheitert.

Item. In drei Einkäufen schaffe ich die aufgrund vager Hochrechnungen ermittelte Menge Nahrungsmittel und Getränke im Veloanhänger nach Hause. Am Samstag bereiten wir bis 22 Uhr Brot- und Zopfteig sowie Desserts vor, rüsten wie irr Kartoffeln und Spargeln. Noch 12 Stunden, bis das selbst verursachte Grauen in Form einer Besucherlawine über uns hereinbricht.

Es klingelt. 9.55 Uhr. Panik bleibt aus, wir sind parat. Im 5-Minuten-Takt treffen die Gäste ein. Alle stellen ihre Schuhe feinsäuberlich vor die Tür. Alle verstauen ihre Jacken in der Garderobe. Alle bedienen sich vom Buffet. Kümmern sich um ihre Kinder. Räumen Geschirr und Besteck in die Maschine. Putzen, falls nötig. Trocknen nach Unfällen Tränen. Und trennen keine Streithähne. Denn gestritten wird – zu meinem überaus grossen Erstaunen – nicht.

So verläuft der Tag in Minne, zwar mit viel Arbeit, aber erstaunlich stressfrei.

Kurz darauf, ein normaler Arbeitstag, blütenweiss der Kalender, überschaubar die anstehenden Aufgaben. Die Vorzeichen stehen auf effiziente, ruhige Aufgabenerledigung. Doch bereits am Morgen stockts. Ich bin zu spät dran, nehme den falschen Schlüsselbund mit, scheitere deshalb beim Öffnen des Veloschlosses, renne wieder hoch, runter, Velo samt Anhänger raus, und da – pling, pling – das Signal vor dem Haus steht auf Rot. Der Güterzug rollt ins eine Gleis vor. Steht. Rollt zurück. Steht. Rollt ins zweite Gleis vor. Steht. Steht. Steht. Rollt in Zeitlupentempo zurück. Bis endlich der Übergang frei ist.

Unnötig zu sagen, dass bis zur Kinderkrippe noch sieben Rotlichter folgen werden. Eine halbe Stunde später als geplant bin ich im Büro, fix und fertig. Und schon klingelt das Telefon. Ein alter Bekannter, ein weniger alter, aber umso mühsamerer Konflikt um ein inhaltlich wenig bedeutsames Thema beschäftigen mich die nächsten 40 Minuten. Kaum hänge ich ermattet das Telefon auf, kommen neue Anweisungen per Mail. Die mich den ganzen Vormittag beschäftigen werden.

So geht's weiter. Details erspare ich Ihnen. Nur dies: Die Mini-Pendenzenliste vom Morgen ist bis am Abend mächtig angeschwollen. Statt das Wenige zu erledigen, habe ich nun sehr vieles nicht erledigt. Nach einer nervenaufreibenden Velofahrt im Feierabendverkehr durch die halbe Stadt zur Kita treffen wir – nun wirklich fix und fertig – nach 19 Uhr daheim ein.

Spätestens seit diesen zwei Erlebnissen weiss ich, dass ich für zuverlässige Prognosen eher nicht geeignet bin. Sollte ich Ihnen gegenüber trotzdem mal eine äussern, dann gehen Sie für sich doch einfach vom Gegenteil aus. Es dürfte nahe an der Wahrheit liegen.
8. Juni 2015

Zur Person
Karin Winistörfer
, geboren 1974 in Biel, ist ab September 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Verwaltung im Bereich Bildung und Kultur. 2001 schloss sie ihr erstes Studium der Geschichte und Soziologie mit dem Lizentiat ab. Danach war sie bis 2012 Journalistin und Redaktorin im Ressort Kanton bei der Neuen Luzerner Zeitung (Schwerpunkte Politik, Hochschulbildung, Gesundheit/Spitäler, Strommarkt, Gemeinden). 2012 bis 2014 absolvierte sie an der Universität Luzern den Master of public opinion and survey methodology. Karin Winistörfer wohnt mit ihrem Lebenspartner und ihren zwei kleinen Kindern in der Stadt Luzern.