Regula Schärli Beck (links), Geschäftsführerin, und Angelika Ferroni, Präsidentin der Genossenschaft Zeitgut

Bild: Regula Schärli Beck (links), Geschäftsführerin, und Angelika Ferroni, Präsidentin der Genossenschaft Zeitgut.

Gute Zeiten für Zeitgut

Von Hans Beat Achermann (Text und Bild)

Vor genau vier Jahren wurde in Luzern die Genossenschaft Zeitgut von acht Privatpersonen gegründet, damals noch unter dem Namen KISS. Die Idee dahinter: Mit einem völlig neuen Ansatz soll die Nachbarschaftshilfe gefördert werden. Statt Bargeld gibt es für diejenigen, die Unterstützung leisten, Zeitgutschriften. Diese kann man wiederum als Unterstützung „einkassieren“, wenn man selber auf Hilfe angewiesen ist. Nach schwierigem Beginn – geprägt von vor allem finanziellen Problemen – scheint das Unternehmen Zeitgut nun auf der Erfolgsspur zu sein: Die Zahl der Mitglieder wächst, die finanziellen Probleme sind im Griff und mit einem neuen Familienprojekt ist ein neues Unterstützungsmodell aufgegleist.

Es ging ums Überleben

„Es brauchte mehr Zeit und mehr Energie, als wir anfänglich gedacht haben“, bilanziert die Zeitgut-Präsidentin Angelica Ferroni. Vor allem aber ging es darum, gegen die in den bestehenden Organisationen und bei den Behörden vorherrschende Skepsis gegen das neue Nachbarschaftsmodell anzukämpfen und Missverständnisse zu klären. „Eine solche Organisation aufzubauen ist nicht gratis“, sagt Geschäftsführerin Regula Schärli Beck: „Es braucht eine Datenbank, es braucht eine Beraterin, welche die Betreuungstandems zusammenbringt und es braucht eine Geschäftsführung.“  All das kostet, auch wenn die eigentlichen Leistungen dann mit Zeit abgegolten werden. Viele, die am Aufbau beteiligt waren, haben sich ihre Leistungen (Grafik, Werbung, Buchhaltung usw.) ganz oder teilweise in Zeitgutschriften gutschreiben lassen. „Zeitweise ging es ums Überleben“, sagt Angelica Ferroni, und Regula Schärli Beck ergänzt: „Dank dem Engagement unserer Genossenschafter und der Verwaltungsmitglieder, die sich hochgradig mit der Zeitgut-Idee identifizieren und sich als Teil des Unternehmens verstehen, konnte die Idee überleben.“ Doch nicht nur die Finanzen waren das Problem: Es war auch schwierig, an die eigentliche Zielgruppe, die Hochaltrigen zu gelangen, da diese  kaum in den (sozialen) Medien aktiv sind. Durch Angehörige und Nachbarn konnten aber viele vom Angebot überzeugt werden: So sind zurzeit 79 Tandems aktiv, will heissen: 79 Personen, die Hilfe bieten und 79, welche diese in Anspruch nehmen. 71 Tandems sind inzwischen abgeschlossen. Die Hilfeaktivitäten reichen von Haushaltarbeiten über Begleitung zu Arztbesuchen bis zu PC-Support, von Einkaufen über Gartenarbeiten bis zu Bürotätigkeiten.

Basisarbeit bringt neue Mitglieder

Inzwischen ist Zeitgut sehr gut vernetzt, ist mit der katholischen Kirche eine strategische Partnerschaft eingegangen und beim Mehrgenerationen Bauprojekt Vicino führend mit dabei. Neuerdings gibt es auch die Kollektivmitgliedschaft, die es ermöglicht, dass eine Institution wie die Kirche stellvertretend die Mitgliedschaft der zu betreuenden Personen übernimmt.  Damit können zum Beispiel Freiwillige des Besuchsdienstes der katholischen Kirche sich Zeit gutschreiben lassen.  Weitere Kollektivmitglieder sind das Ziel, fünf bis sieben sollen es Ende 2017 sein. „Durch die hohe Vernetzung haben wir kein Glaubwürdigkeitsproblem mehr“, freut sich Angelica Ferroni. „Dank überzeugender Basisarbeit konnten wir auch viele neue Mitglieder rekrutieren“, bilanziert Regula Schärli Beck. Zurzeit (Ende November 2016) sind in der Gensossenschaft 258 Mitglieder eingetragen, noch vor zwei Jahren waren es erst 105. Das Wachstum freut die beiden Frauen, führt aber auch jetzt schon zu Ressourcenknappheit.  „Natürlich möchten wir weiter wachsen“, sagt Angelica Ferroni, doch der Fokus liege vermehrt auch auf dem qualitativen Wachstum, will heissen: die weitere Verankerung und Vernetzung als einzigartige „Marke“, so dass möglichst viele sagen können, so das Zitat einer Frau, die Hilfeleistungen durch Zeitgut in Anspruch genommen hat: „Ich fühle mich jedesmal wie eine Königin.“

Künftig auch ein Familienprojekt

War in den ersten Jahren Zeitgut vor allem bei betagten Seniorinnen und Senioren tätig, soll künftig mit dem Familienprojekt ein neues „Geschäftsfeld“  etabliert werden. Konkret heisst das: Ein Kind kann wegen Krankheit nicht in die Kita, die Eltern sind aber beide berufstätig und können nicht kurzfristig frei machen. In diesem Fall könnte eine „Ersatzgrossmutter“ (oder –vater) aus der Nachbarschaft einspringen und als Tagesmutter wirken, wobei natürlich bereits vorgängig eine Beziehung aufgebaut werden muss. „Dank der grosszügigen Unterstützung durch eine ausländische Stiftung können wir nun an die Realisierung dieses Pilotprojekts gehen“, schaut  Regula Schärli vorwärts.

Zeitgut ist Teil einer schweizweiten Bewegung, die inzwischen neun Genossenschaften umfasst, zehn weitere sind in der Warteschlaufe. Der neue Ansatz, Leistungen gegen Zeitgutschriften statt gegen Geld zu erbringen, scheint langsam anzukommen.  Die anfänglich wacklige vierte Säule ist daran, sich zu stabilisieren.   19. November 2016

www.zeitgut.org
www.kiss-zeit.ch