Der Zweite Weltkrieg

Von Judith Stamm

Am 8. Mai 1945, also vor siebzig Jahren, ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Auch meine Gedanken gehen in diesen Tagen zurück in die Vergangenheit.

1934 geboren, war ich bei Kriegsende ein Schulkind und erinnere mich, dass die Kirchenglocken läuteten und meine Mutter sagte: „Jetzt ist Friede in der Welt“. Meine Generation hatte das Privileg, ganz kurze Zeit daran glauben zu können, dass Friede sei in der Welt! Ein solcher Gedanke ist heute unvorstellbar. Heute denke ich vielmehr, es werde nie Friede werden in dieser Welt.

In meiner Erinnerung lebte die Schweizer Bevölkerung von 1939 bis 1945 mit einem Gefühl der Angst. Auf mich jedenfalls übertrugen sich Gesten, Gespräche, Reaktionen der Erwachsenen so. Während einigen Wochen wurde ich bei Verwandten in der Innerschweiz untergebracht, falls Hitler in Zürich einmarschieren würde, wie es hiess. Aber selbstverständlich lebte auch ich in der Überzeugung, dass unsere Soldaten uns im Ernstfall verteidigen würden und könnten. Diese „Überzeugung“ bröckelte dann im Verlaufe der nachfolgenden Jahre ab.

Noch belastender als die Angst war für mich das Gefühl der Hilflosigkeit. Ringsum war Krieg, ringsum waren Menschen auf der Flucht, ringsum herrschte Zerstörung, Städte wurden bombardiert, und wir konnten nicht helfen. Später dachte ich, viele Menschen in unserem Lande seien in diesen Jahren wie seelisch erstarrt. Und diese Erstarrung musste sich nach Kriegsende erst wieder lösen. Jedenfalls sah ich darin eine Ursache für unsere grosse Zurückhaltung, in internationalen Zusammenschlüssen mitzumachen. Wir hatten gleichsam nicht mitgespielt, weder gewonnen noch verloren, wieso sollten wir nun plötzlich zu Mitspielern werden?

Dass das „Nichtmitspielen“ nicht die ganze Wahrheit war, ging mir mit den Jahren auch auf. Und ich setzte mich mit meiner Erkenntnis in einer Ansprache an einer der unsäglichen Diamantfeiern 1989 gehörig in die Nesseln. Ich konnte es nicht fassen, dass wir eine Gedenkstunde zum Ausbruch eines Weltkrieges abhalten sollten. Und als ich dann gebeten wurde, an einer solchen Gedenkstunde als „kritische Stimme“ aufzutreten, nahm ich diese Aufgabe, nach anfänglicher Ablehnung, ernsthaft wahr.

Aber ich hatte nicht bedacht, dass ich nicht vor einem allgemeinen Publikum sprach, sondern vor einer grossen Schar von Veteranen, die von einer Schifffahrt mit gemütlichem Zusammensein zurückkamen. So neben den Schuhen hatte ich mich mit meinen Ausführungen noch nie im Leben gefühlt!

Ja, der Zweite Weltkrieg holte mich noch oft ein. Auch in meiner politischen Tätigkeit. Die Diskussionen um die nachrichtenlosen Vermögen nahmen breiten Raum ein in unserem Lande. Als Nationalratspräsidentin besuchte ich 1997 mit einer Delegation das polnische Parlament und das Konzentrationslager Ausschwitz. Wir wollten ein Zeichen setzen, und gleichzeitig bangte mir vor diesem Besuch. Er wurde zu einem Erlebnis der tiefen Eindrücke und eines mir heute noch unerklärlichen Trostes.

Tief eingegraben in meiner Erinnerung ist, neben vielen anderen, der Name Dietrich Bonhoeffer. Er war lutherischer Theologe, engagierte sich gegen das Nazi-Regime, wurde 1944 verhaftet und am 9. April 1945 im KZ Flossenbrügg hingerichtet durch Erhängen. Texte und Briefe, die der tief gläubige Bonhoeffer während seiner Haft schrieb, gelangten an die Aussenwelt und entfalten bis heute eine grosse Wirkung. Aber schon 1933 formulierte er in einem Vortrag über das Verhältnis der Kirche zum Staat, die Kirche müsse „dem Rad in die Speichen fallen“ und nicht nur die unter die Räder Gekommenen verbinden!

Dieser Gedanke ist zeitlos und bedenkenswert nicht nur für die Kirchen, sondern auch für jeden einzelnen Menschen. Gerade auch in der heutigen Zeit!
16. Mai 2015

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.