Gegen das «Geschrei» in Ost und West: Kolakowski lesen!

Von Meinrad Buholzer

Da ich ungern ohne Lesestoff unterwegs bin, habe ich mir vor ein paar Monaten ein Büchlein in die Windjacke gesteckt: Leszek Kolakowskis „Neue Mini-Traktate über Maxi-Themen“. Als ich kürzlich wieder mal warten musste, griff ich in die Jackentasche und las den Essay „Von Freund und Feind“. Was ich las, kam mir vertraut vor; zum Beispiel wenn ich die Gedanken nach Osten schweifen lasse. Unerlässlich sei ein Feind für die Tyrannei“, schreibt Kolakowski und fährt fort:

Je mehr Macht ein Regime oder eine Regierung über die Menschen haben will, desto mehr Feinde braucht es, die es bedrohen, und ein totalitäres Regime würde ohne Feinde nicht lange bestehen. Notwendig sind Kriege, die die besten Gründe liefern, um tyrannische Herrschaften zu festigen, aber insbesondere solche Kriege, die einem totalitären Staat grosse Siegeschancen böten, sind nicht jederzeit zu haben. Es gibt aber stets gute Notbehelfe, wie Drohungen und das Aufstellen von Forderungen an Nachbarn, die aus irgendwelchen Gründen unsere berechtigten Gebietsansprüche nicht anerkennen wollen, vor allem jedoch ist das ständige Vorhandensein innerer Feinde vonnöten, die gewöhnlich durch auswärtige feindliche Mächte aufgewiegelt und finanziert werden.

Und nun, die Gedanken mehr in unsere Nähe und nach Westen richtend: 

Tagtäglich sehen wir, wie die primitivsten und rückständigsten politischen Bewegungen oder Parteien unentwegt von Verschwörungen, die gegen Volk und Staat gerichtet sind, sprechen, womit ihre ideologische Kraft erschöpft ist. Diese Verschwörungstheorien haben in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Gestalt: Häufig sind es Juden oder Freimaurer und Juden oder Liberale oder kommunistisch infiltrierte Liberale (…) oder schliesslich die Immigranten. Überall gibt es grosse Probleme, und es gibt Teile der Bevölkerung, die sich benachteiligt fühlen. Gut ist es dann, Unterstützung durch Geschrei zu erlangen, mit dem erklärt wird, dass stets irgendein „Fremder“, ein nicht ganz menschliches Wesen, an der Zurücksetzung oder Not schuld ist.

Ich kann nicht behaupten, dass Kolakowski in diesen tristen Tagen Trost spendet. Aber daran erinnert zu werden, dass aktuelle Phänomene so aktuell auch wieder nicht sind, sondern eine leidige Wiederkehr des Ewiggleichen, ist hilfreich. Das macht sie nicht besser, hilft aber, die Relationen zu sehen.

Zu Leszek Kolakowski (1927-2009): Das kommunistische Regime in Polen wollte den Philosophen als intellektuelle Geheimwaffe gegen den Klassenfeind aufbauen. Doch das „Geschütz“ ging nach hinten los. Kolakowski wurde ein schonungsloser Kritiker des Regimes und demontierte in seinem Hauptwerk („Die Hauptströmungen des Marxismus“) die marxistische Ideologie. 1966 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und verliess Polen. Er lehrte u.a. in Montreal, Berkeley und Chicago; 1970 wurde er Professor am All Souls College in Oxford, wo er bis zu seinem Tod lebte. Ein anregender Denker, selbst – oder gerade – wenn man seine Meinung nicht teilt; man lese etwa sein „Lob der Inkonsequenz“ von 1958. (Der oben zitierte Text entstand übrigens noch in seinen polnischen Jahren.)

11. Dezember 2016

Zur Person

Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.