„Ein Heimleiter muss Menschen gern haben"

Mit Paul Otte sprach René Regenass

19 Jahre waren Sie Heimleiter – am 31. August hatten sie den letzten Arbeitstag im Steinhof . Ihr Alltag wird sich enorm verändern. Gibt es etwas, das Sie nachher vermissen werden?
Paul Otte: Sicher. Ich werde den Steinhof vermissen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. (Hier muss Paul Otte kurz wegschauen, seine Augen werden feucht) Und auch die Menschen, die wir hier betreuen. Die ganze Atmosphäre. Der Steinhof  ist oder war ein wichtiger Lebensmittelpunkt.

Vor dem Steinhof wirkten sie im Verkehrshaus. Wie kam es zu diesem Wechsel?
Ich hatte eine spannende Aufgabe, als Marketingleiter einen interessanten Job. Und trotzdem stand dann plötzlich die Frage im Raum, ob ich die Kraft aufbringen würde, diese Funktion bis 65 wahrzunehmen. Ich merkte schnell, dass dies für mich nicht aufgehen konnte. Ungefähr in dieser Zeit sah ich das Inserat, in dem eine Leitperson für das Pflegeheim Steinhof gesucht wurde. Diese Herausforderung hat mich angesprochen

Die Wahl ist nicht selbstverständlich. Gab es irgendeine Verbindung zum Thema Pflege und Betreuung?
Es hat Berührungspunkte gegeben. Mein Onkel und meine Tante sind im Steinhof gepflegt worden, meine Eltern waren hier. Und eine gewisse Zeit vor der Bewerbung begleitete ich Steinhof-Bewohnerinnen und – bewohner in einem Freiwilligeneinsatz in eine Ferienwoche in Caslano im Tessin.

Der Steinhof hat einen Namen als gut geführtes Heim mit gutem Personal. Wie schafft man das?
Ein Heimleiter kann kein Manager sein, keinesfalls – das ist eine Überzeugung von mir. Aber er muss Menschen gern haben, auch die Mitarbeiter. Und er muss bereit sein für eine hohe Präsenz, zeitlich und in der Sache. Es braucht Herzblut für diese Aufgabe, Empathie für die Menschen  – ohne geht es nicht. Gut, vielleicht geht es auch ohne diese Eigenschaften; aber dann reduziert sich das Ganze auf eine Manageraufgabe. Es braucht aus meiner Sicht den ständigen Kontakt zu den Bewohnern und zum Personal  – das ist die eigentliche Herausforderung. Ich habe es im letzten Jahresbericht geschrieben.  Für mich gibt es drei wichtige Worte: Präsenz, Präsenz, und Präsenz.

Gibt es Eigenschaften oder Fähigkeiten, die für sie beim Personal bestimmend sind?
Vorweg: Auch wir spüren den ausgetrockneten Arbeitsmarkt, vor allem im Bereich des ausgebildeten Fachpersonals. Wir haben da keine Qual der Wahl. Zu den Eigenschaften: Pflege ist eine Herzensangelegenheit. Es braucht Freundlichkeit, Empathie und Liebe zum Menschen. Je stärker diese Faktoren ausgebildet sind, umso höher wird die Pflegequalität, die der Bewohner wahrnimmt. In dieser Richtung geht unser Fokus. Und wenn dann eine konkrete technische Fähigkeit einer Pflegeperson etwas weniger ausgebildet ist, bleibt das Zwischenmenschliche entscheidend. Zeit haben dafür, zuhören und sich auf die Biografie des Bewohners, der Bewohnerin einlassen können. Jede Pflegende soll ihr Gegenüber als Individuum wahrnehmen und sich auf individuelle Lösungen einlassen können. Das ist die grosse Kunst der Pflege. Ich erinnere immer wieder an unsere vier V als Masstab für alle in der Alltagsarbeit: Vorbild sein, Vertrauen schenken, Veränderungswille und Verantwortung auf allen Ebenen wahrnehmen.

Ein gut geführtes Heim mit einer guten Atmosphäre – Gibt es trotzdem noch Verbesserungspotential?
Betriebsintern stehen wir kontinuierlich in einem Verbesserungsprozess. Der Betrieb muss aus meiner Sicht schlank bleiben. Es darf kein Wasserkopf entstehen. Wichtig sind kurze Entscheidungswege. Wir müssen flexibel bleiben und rasch auf neue Herausforderungen reagieren können. Ein wichtiger Bereich ist die Kinästhetik auf hohem Niveau.  Damit meine ich einen Automatismus in den Bewegungshilfen und beim Transport von Bewohnern und Bewohnerinnen. Es geht auch um den Erhalt ihrer Ressourcen. Das Personal wird in Grund- und Zusatzkursen für diese Arbeit geschult. Das ist ein laufender Lernprozess.

Eine Herausforderung für die Zukunft ist das Neubauprojekt, mit dem wir vor allem das Angebot an Einzelzimmern beträchtlich erweitern können. Zu den bestehenden 39 kommen dann 24 zusätzliche Einerzimmer.  Parallel dazu werden 24 bestehende Zweierzimmer in Einerzimmer umfunktioniert. Dann kommen wir auf ein Total von rund 90 Einzelzimmern. Es bleiben noch sechs bis acht Zweierzimmer. Das ist notwendig, weil es immer wieder Situationen gibt, wo ein Doppelzimmer den Bedürfnissen der Bewohnenden besser entspricht.

Für einen schlanken Betrieb braucht es auch schlanke Führungsstrukturen. Gehören solche zum aktuellen Steinhof-Konzept?
Unbedingt. Ich bin überzeugt von den Vorteilen einer schlanken Organisation. Es gibt den Heimleiter, dann fünf  Bereiche. Die Vorstehenden bilden mit mir zusammen die Heimleitung. Untergeordnet sind dann die einzelnen Pflegeabteilungen.

Die Stadt erarbeitet eine neue Pflegeversorgung. Sind wir auf gutem Weg, um die  wachsenden Ansprüche der Alten-Generation befriedigen zu können?
Die Stadt Luzern ist mit der Altersversorgung gut aufgestellt. Ich sehe ab und zu auch die Angebote im Ausland. Im Vergleich stehen wir da absolut an der Spitze. Es gilt jedoch Sorge zu tragen zu dem Erreichten. Wir dürfen dies aus kurzfristigen wirtschaftlichen Überlegungen nicht in Frage stellen. Und wir sollten uns die Frage stellen, ob ich die neue Ordnung in zwanzig Jahren so akzeptieren könnte, wenn ich vielleicht auch in ein Pflegeheim wechseln muss. Bin ich bereit, die Konsequenzen zu tragen? Ich habe den Eindruck, dass die Politik mit ihrem Sparkurs die langfristige Optik vernachlässigt.

Zum Beispiel?
Bei der Pflegefinanzierung etwa. Weiter gilt es darauf zu achten, dass neue, wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu voreiligen Schlüssen führen. Es braucht nicht für jedes Segment eine Sonderlösung. In einem Pflegeheim müssen Allrounder wirken. Wir können nicht für jedes Krankheitsbild eine Sonderlösung anbieten. Und durch die Politik besteht die grosse Gefahr, alles reglementieren zu wollen. Jetzt zum Beispiel verlangt der Kanton von allen Heimen, auch von solchen,  die seit Jahrzehnten funktionieren, neu eine Betriebsbewilligung. Frage dazu: Was ist mit diesen Betriebsbewilligungen verknüpft? Soll da etwa vorgeschrieben werden, welche Ausbildung ein Heimleiter haben muss? Da muss die öffentliche Hand aufpassen, dass sie nicht zu stark in die Autonomie eines Betriebes eingreift. Sonst kann man die ganze Übung mit der Privatisierung von solchen Einrichtungen aufgeben. Vorbehalte habe ich auch gegenüber den aktuellen Bestrebungen zum sogenannten Wohnen im Alter. Vielleicht ist ein Bedürfnis da. Doch besteht die Gefahr zu einer Ghettobildung. Das generationenübergreifende Wohnhaus mit altersgerechtem Ausbaustandard wäre naheliegender.

Seit 2015 gibt es in Luzern die private Aktiengesellschaft Viva, welche die Führung der städtischen Heime übernommen hat. Was hat sich seither verändert?
Aus Distanz betrachtet hat sich wenig verändert. Ich habe den Eindruck von mehr Dynamik, die Entscheidungswege sind wegen Wegfall des politischen Einflusses kürzer geworden. Und es gibt Neues aus den Heimbetrieben, zum Beispiel einen Jahresbericht, in einer Aufmachung allerdings, die etwas Bescheidenheit gut ertragen würde.

Viva hat mit einzelnen Massnahmen für Aufsehen gesorgt. Zum Beispiel mit dem Entscheid zum Planungsstopp bei den Pflegewohnungen oder jetzt mit einer neuen Organisationstruktur und neuen Hierarchien. Was sagen sie dazu?
Ich kenne die internen Überlegungen zu wenig. Ich habe jedoch den Eindruck, dass solche personalintensiven Betriebe mit mehr Hierarchien vor allem schwerfälliger werden und sich in Richtung Wasserkopf  bewegen. Ich vertrete eher den Weg der Kompetenz-Delegation an die einzelnen Betagtenzentren. Die zentralistische Führung eignet sich hier nicht. - 5.9.2016 (Das Interview erschien zuerst in der September-Ausgabe der Quartierzeitung "Obergrund".)

Zur Person
Paul Otte (63) trat auf den 31. August 2016 als Leiter des Pflegeheims Steinhof zurück, das 1924 von den Barmherzigen Brüdern von Maria-Hilf im damaligen Schloss Steinhof ins Leben gerufen worden ist. Vor der Heimleiter-Funktion war Paul Otte Marketingleiter im Verkehrhaus der Schweiz in Luzern. Heute lebt er mit seiner Frau in Kriens. Zur Familie gehören zwei Söhne, 32 und 35 Jahre alt.