Das vierte Alter

Von Judith Stamm
Den vielen Theorien über das Altwerden füge ich auch noch eine hinzu. Wettbewerb ist immer gut. Ich kenne Menschen, die fürchteten sich vor Jahren vor dem 60. Geburtstag. „Jetzt bin ich dann alt“, sagten sie betrübt. Diese Zeiten sind vorbei. Gute Gesundheit vorausgesetzt ist mit sechzig Jahren niemand mehr „alt“. Im Gegenteil. Die Dynamik des Lebens trägt uns weit über das 60. Altersjahr hinaus. Bis so gegen den 80. Geburtstag. Dann werden gesundheitliche Einschränkungen spürbar, die Leistungskraft sinkt, der Lebensrhythmus wird langsamer. Ja und jetzt? Die Jahre, die dann folgen, werden heute „das vierte Alter“ genannt. Wenn immer mehr Menschen hundert Jahre alt werden, wird die Altersforschung in Zukunft sicher auch noch von einem fünften, einem sechsten und noch weiteren „Altern“ sprechen. Denn auch das Altwerden verläuft in Phasen, die einander ablösen. Sie sind so spannend zu durchlaufen, wie alle Phasen des Lebens. Aber die vierte und weitere Phasen müssen zuerst noch von genügend Menschen erlebt werden. Damit man eine „repräsentative Zahl“ von ihnen befragen, ihre Befindlichkeit erforschen, und eine Studie veröffentlichen kann!

Das „vierte Alter“, das sich so langsam als Begriff durchzusetzen beginnt, ist für viele Menschen nicht eitel Honiglecken. Was spielt sich denn da ab? „Ich bin ein alter Artillerie-Oberst und sage Dir, die Granaten schlagen ein, und die Einschläge kommen immer näher“, meinte ein gleichaltriger Bekannter kürzlich in einem Gespräch. Das war sein Bild dafür, dass er in der letzten Zeit drei seiner besten Freunde durch Tod verloren hatte, von Krankenbett zu Krankenbett eilte und sich bewusst war, dass auch ihn selbst jederzeit ein Schicksalsschlag treffen konnte. Seinen Humor hat er nicht verloren, er organisiert sein Leben um neue Verpflichtungen herum, und erlebt jeden Tag bewusst als Geschenk. Was passiert denn so im vierten Alter? Der Bekanntenkreis schrumpft durch Krankheiten und Todesfälle. Der Tod macht aus Eheleuten Alleinstehende. Die Gebrechlichkeit alter Eltern absorbiert die Kräfte der jüngeren Generation. Schwierige Menschen werden mit dem Alter nicht weniger schwierig, die „Ecken und Kanten“ prägen sich eher noch mehr aus. All das gehörte auch in früheren Jahren zum Leben. Aber im höheren Alter sind die körperlichen und seelischen Ressourcen nicht mehr „unerschöpflich“. Das „Verkraften“ von Schicksalsschlägen fällt schwerer. Entscheidungen und Umstellungen benötigen mehr Einsatz.

Besteht da ein Grund, Trübsal zu blasen? Überhaupt nicht! Das vierte Alter hat seine eigenen Qualitäten. Wer langsamer geht, sieht mehr. Wer Zeit hat, erlebt seine Mitmenschen neu. Wer seine Interessengebiete einschränken muss, kann den Dingen besser auf den Grund gehen. Und in unserer Luxusoase Schweiz haben die meisten Menschen auch im vierten Alter ein gutes Leben. Dafür können wir alle nur dankbar sein.

Zur Person

Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971-1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983-1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 -1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und deren Rütlikommission. Heute geniesst sie ihren Ruhestand in Luzern.