Die Gleichzeitigkeit der Ungleichheiten

 Von Judith Stamm

Der Satz im Titel ist nicht vollständig.  „Die Gleichzeitigkeit der weltweiten Ungleichheiten der Lebensbedingungen der Menschen machen mir zu schaffen“ heisst er, wenn er ausgeschrieben ist. Wenn ich mich mit  all den Konfliktherden, Gewalttaten und Ungerechtigkeiten beschäftige, und mir vorstelle, wie  viele Menschen, vor allem auch Kinder, darunter leiden, steigt ein bedrückendes Gefühl der Hilflosigkeit in mir auf. Ich kenne dieses Gefühl. Es überflutete mich auch als kleines Mädchen während des zweiten Weltkrieges. Ringsum war Krieg, ringsum gab es Bombardierungen, ringsum flüchteten Menschen.  Und ich lebte in der sicheren, intakten Schweiz, und konnte nicht helfen. Begleitet war dieses Gefühl der Hilflosigkeit seinerzeit von einer diffusen Angst. Diese ging von den Erwachsenen und ihren ernsten Gesichtern aus.

Und heute? Heute höre, sehe und lese ich von Bürgerkriegen, Terroranschlägen, Flüchtlingslagern mit Tausenden von Menschen - in der Wüste aus dem Boden gestampft - , von allen Gräueltaten auf unserem Planeten. Und alle diese Stichworte bedeuten auch beteiligte Menschen, leidende Menschen, leidende Kinder.

Ich bewundere unsere Medienleute, die uns diese „News“ tagtäglich mit mittlerem Ernst in Stimme und Miene weitergeben. Auch die Sprecherinnen und Sprecher am Fernsehen tun das professionell. Sie sind immer gefasst, mal sehr ernst, mal mit einem leichten Lächeln, passend zur Nachricht: ob sie uns von Unmenschlichkeiten („schon wieder ein Massengrab entdeckt“), von Umweltkatastrophen („schon wieder Überflutungen von weiten Landstrichen“), von einer neuen Erfindung in der Medizin oder einem heiteren Ereignis berichten. Sie müssen so agieren. Manchmal frage ich mich, wie sich das wohl anfühlt, so beherrscht über Massaker, Hungersnöte und andere Krisen zu informieren?

Es nützt niemandem, wenn ich, als Zuschauerin im bequemen Sessel sitzend, ob all des Unheils in der Welt trübsinnig werde. Nur, wie ordne ich diese Entwicklungen in mein Weltbild ein? Es ist ein Privileg, in der Schweiz leben zu können. Ich schätze die komfortable Situation. Und gleichzeitig belastet mich mein Wissen um  die so ganz  anderen, vielfach Gesundheit und Leben bedrohenden und unwürdigen  Lebensbedingungen so vieler Mitmenschen. Es ist ähnlich, wie bei der Begleitung eines schwerkranken Menschen. Das Mitansehen und nicht Helfen, nicht Eingreifen können, zermürbt auch.

Da ist noch die Dimension des Glaubens. Nur, was wir Menschen in unserer Masslosigkeit und Unvernunft anrichten, können wir nicht „kindlich vertrauend“ auf den lieben Gott abschieben. Diese „Lösung“ scheint mir doch etwas zu einfach. Hilfreicher wäre es wohl, im Neuen Testament wieder einmal die Geschichte vom „reichen Prasser und armen Lazarus“ nachzulesen (Lukas 16, 19 – 31). Sie ist zwar mehrere hundert Jahre alt, aber immer noch erstaunlich aktuell!


Zur Person

Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971-1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983-1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 -1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und deren Rütlikommission. Heute geniesst sie ihren Ruhestand in Luzern.