Alter

 Von Judith Stamm

Wer über das Alter schreibt, macht sich beliebt. Von ernsthaften Studien über Zitatensammlungen bis zur Karikaturenausstellung „Wir Alten“ findet sich alles. Das Alter wird sozusagen medial „bewirtschaftet“, wie der fachtechnische Ausdruck des Zürcher Medienprofessors Kurt Imhof für solche Massierungen lautet.

Warum ist das so? Die demographische Entwicklung führt dazu. Wir Menschen in unseren Breitengraden leben länger als früher. Darum wird es immer mehr von uns Alten geben. Und wir werden einige Zeit vor unserem Tod gesundheitliche Beschwerden haben, ja pflegebedürftig sein. „Da kommt eine grosse Last auf die Gesellschaft zu“, heisst es warnend in den Medien. „Demographische Katastrophe“ habe ich auch schon gelesen oder „Altersschwemme“ oder „Überalterung“. Dabei sind es der gesellschaftliche Wohlstand und die Bemühungen der Medizin, welche die „Überalterung“ schaffen. Eine gute Sache!

Es gibt noch andere Gründe, warum sich das Alter als Studienobjekt und Sujet für Wort und Bild so gut eignet. Wir Alten sind das friedlichste Segment in der Gesellschaft! Wir motzen nicht, wir meckern nicht, wir hängen nicht in den Bahnhöfen herum und betrinken uns nicht in der Öffentlichkeit! Vielen von uns geht es gesundheitlich und finanziell gut. Und so konsumieren wir fleissig all die Angebote, die für uns bereit stehen. Kultur, Sport, Reisen, die Jahre vergehen wie im Flug.

Sind wir so friedlich, wie wir scheinen? Und werden wir es bleiben, wenn unsere Zahl ständig zunimmt? Wenn neue Arten von Alten auf die Szene kommen wie die Babyboomer, die mit grossem medialem Getöse angekündigt werden? Sie werden ganz anders sein als meine Generation, heisst es. Gesünder, fitter, neugieriger, selbstbewusster: Schöne Aussichten sind das!

Ich habe auch für meine Generation von Alten eine Vision. Wir werden noch einmal demonstrieren, friedlich natürlich! Wir werden auf die Strasse gehen und lauthals ein „AAZ“ fordern, ein „Autonomes Alten-Zentrum“, Zutritt ab 70 Jahren! Und wenn wir es dann haben – es kann eine ausrangierte Fabrikhalle, ein leerstehendes Bürogebäude, eine nicht mehr benützte Kirche sein – wenn wir es dann haben, unser AAZ, dann werden wir dort machen, was wir wollen! Und zwar unbeaufsichtigt, unbetreut und unerforscht!

Niemand wird uns zu pausenlosem „glücklichem und erfolgreichem Altern“ aufrufen. Gelegentlich wollen wir finster und müde in die Welt schauen. Niemand wird für uns die Kaffeemaschine bedienen und den Kuchen rechtzeitig aus dem Tiefkühler holen. Das machen wir noch selbst. Und niemand wird uns mit ernster Miene tiefschürfende Fragen stellen, weder zur Vergangenheit, noch zur Gegenwart und schon gar nicht zur Zukunft!

Übrigens, wie hiess doch der gute Spruch in der Karikaturenausstellung: „Die Kunst besteht darin, jung zu sterben, aber das so spät wie möglich!“


Zur Person

Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971-1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983-1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 -1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und deren Rütlikommission. Heute geniesst sie ihren Ruhestand in Luzern.