Kurt Marti hinterlässt Lücke und Vermächtnis!

Von Judith Stamm

Erinnerungen, Würdigungen, Nachrufe zuhauf überschwemmten die Medienlandschaft, als der Tod von Kurt Marti bekannt wurde. Das ist angemessen. Erlaubt mir, mich in meinem Text auf das Allernötigste zu beschränken, was Daten anbelangt. Kurt Marti wurde 1921 geboren, wuchs in Bern auf, studierte Theologie in Bern und Basel. Von 1961 bis 1983 war er Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Seit 1983 war er freier Schriftsteller. 1950 verheiratete er sich mit Hanni Morgenthaler. Gemäss Wikipedia hatte das Paar drei Söhne und eine Tochter. 2007 verstarb seine Frau.

Meine persönliche Annäherung an den Schriftsteller geschieht durch Erinnerungen an seine Worte. Der erste Kontakt geschah vor vielen Jahren über das Büchlein  „Leichenreden“. Ich weiss nicht mehr, wer mir das zugespielt hat. Ich war total begeistert. Diese klare Sprache, dieses schonungslose sich Befassen mit dem Tod – ähnliches hatte ich vorher nicht gelesen! Ich habe die Gedichte jetzt wieder zur Hand genommen und kann mich noch an die ursprünglichen Gefühle beim erstmaligen Lesen erinnern:

„dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
dass gustav e.lips
durch einen verkehrsunfall starb“

Das Gedicht, es hat noch weitere Strophen, wühlte mich auf. Ich hatte Jahre vorher einen jüngeren Bruder durch einen Verkehrsunfall verloren. Aber sich in der Trauer aufzulehnen, zu „protestieren gegen den Tod von gustav e. lips“, das war damals unvorstellbar. Was das Schicksal brachte, war zu akzeptieren.

Am schweizerischen Polizei-Institut in Neuenburg hatte ich einmal in einem Kurs über den Umgang mit Menschen zu referieren. Wobei im Auge zu behalten war, dass es die Polizei nicht unbedingt mit „durchschnittlichen“ sondern doch vielfach mit „besonderen“ Menschen zu tun hatte. Ein Gedicht von Kurt Marti rettete mich. Seine erste Strophe lautet:

„welche wohltat
einmal auch sagen zu dürfen:
nein, er war nicht tüchtig
und wechselte oft die stelle
nein er war nicht fleissig
und arbeitete nur
sofern es nicht anders ging.

Ich weiss noch, dass ich den Text in den Saal hinauschmetterte. Zum ersten, weil ich annahm, dass unter den Zuhörenden, Polizeibeamte aus der ganzen deutschen Schweiz, nur wenige Kurt Marti kannten. Und zum zweiten, weil ich markieren wollte, dass es möglich war, unsere „Kunden“ auch mit einer ganz anderen Brille zu sehen als mit derjenigen, die wir gewöhnlich aufsetzten!

Amüsant scheint mir in der Erinnerung immer noch, wie lange es ging, bis ich „rosa loui“ verstand. Ich meinte, es handle sich um eine veritable Rosa Luis. Dabei hatte ich doch als Kind einmal ein Ferienlager in der Nähe des Rosenlaui-Gletschers verbracht.

„so rosa
wie du rosa
bisch
so rosa
isch
kei loui süsch
o rosa loui
rosa lou
i wett
so rosa
wär ig ou“

Und mit dem Gedicht „wo chiemte mer hi?“ nervte ich immer wieder meine Kollegen in der Politik und andernorts.

„wo chiemte mer hi
wenn alli seite
wo chiemte mer hi
und niemer giengti
für einisch  z`luege
wohi dass me chiem
we me gieng“

Diese Worte werden ihre Gültigkeit behalten, sind gleichsam basisdemokratische Wegzehrung!

In der Zeit als Kurt Marti 90 Jahre alt geworden war, hörte ich zufällig ein Interview mit ihm am Radio. Er erzählte, dass er in einem Altersheim lebe, und je länger je weniger Gesprächspartner habe. „Die Vertrauten meiner Generation sterben weg“, sagte er sinngemäss. Das machte mich sehr traurig. Dieser Mensch hatte mit seinen Worten, Texten, Gedichten unzählige überreich beschenkt. Und jetzt fehlten die Worte, von ihm zu anderen, von anderen zu ihm.

Kurt Marti hinterlässt eine Lücke. Es bleibt uns Band 5 seiner Werkauswahl mit seinen Gedichten unter dem Titel „Namenszug mit Mond“. Aber seine Worte, für mich vor allem seine Gedichte, sind unvergänglich. Denn die ganz klaren Aussagen fliessen aus einer Haltung, die sich keiner Zeitströmung unterworfen hat. Sie zeugen von analytischer Klarsicht, von Respekt, von Zärtlichkeit allem Lebendigen gegenüber. Diese Haltung ist das Vermächtnis von Kurt Marti. Wenn wir sie weiter tragen, ehren wir ihn!
20. Februar 2017

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.