Massenhaft

Von Karin Winistörfer

Massen sind mir suspekt. Eigentlich müssen sie nicht einmal gross sein, um meinen Widerwillen zu wecken. Es genügt eine Gruppe von Leuten, die sich gemeinsam zu lauter Musik in einem Fitnessraum abmühen – ob ohne Geräte, mit Hanteln oder auf Spinning-Fahrrädern ist dabei sekundär. Bei ihrem Anblick zieht sich mein Magen zusammen, und mein Körper stellt sich auf Flucht ein. Bloss nicht da rein!

Das mag nun etwas kleinlich erscheinen. Ich habe jedoch Erfahrungen mit Massen gemacht, welche mich noch heute erschaudern lassen. In China etwa waren wir vor Jahren zu zweit unterwegs. Um gewisse Orte zu erreichen, mussten wir uns einer Reisegruppe anschliessen. Einer einheimischen, wohlgemerkt. Etwa, um zur Chinesischen Mauer ausserhalb von Peking zu gelangen (wobei wir später herausfanden, dass öffentliche Busse verkehrt wären, aber das System war für uns kaum durchschaubar).

Nun gut. Der Car war voller Chinesen, die erwartungsfroh und fröhlich durcheinanderriefen. Die Reiseleiterin vorne redete lautstark ins Mikrofon. Pausenlos. Die ganze rund zweistündige Fahrt hindurch. Natürlich auf Chinesisch und damit für uns komplett unverständlich. Dann kurz kollektiv die Mauer erobert, wieder rein in den Car, in einem Dorf der Sturm aufs Restaurant, nach 30 Minuten wieder in den Car. Das war der Moment, in dem wir kapitulierten. Diagnose: Massenkoller.

Glücklicherweise gab es eine Busverbindung zurück nach Peking. Erst viel später merkten wir, dass wir durch unsere Flucht die Ming-Gräber verpasst hatten. In dieser Stätte sind 13 der 16 Kaiser der Ming-Dynastie begraben. Ein Unesco-Weltkulturerbe. Jammerschade, so etwas auszulassen. Aber wahrscheinlich wäre der Reiz der Stätte bei der Flutung durch unzählige Reisegruppen doch eher untergegangen.

Oder in Japan. Wir besuchten einen Tempel in Nagano. Alt, ehrwürdig, wunderschön. Und untertunnelt. Die Gläubigen strömten in diesen engen Gang, und ich entschied – spontan, unüberlegt und reichlich naiv–, dieses buddhistische Ritual könnte spannend sein. Dabei berühren die Gläubigen beim Gang durch den Tunnel einen von der Decke hängenden Schlüssel. Das Ritual soll Erleuchtung ermöglichen.

Nach wenigen Schritten waren wir im Stockdunklen, rundherum Leute, kaum Luft zum Atmen. Ich musste mich massiv zusammenreissen, um nicht in Panik zu geraden. Sonst habe ich eigentlich nie Platzangst. Aber dort, dicht an dicht gedrängt, ohne Fluchtmöglichkeit und ohne Ahnung, wie weit der Weg sein würde, sich im Schneckentempo vorwärts bewegen.... Das war eine echte Grenzerfahrung. Inmitten einer stockschwarzen Masse. Selten habe ich mich so auf Erleuchtung gefreut, auf das Licht am Ende des Tunnels.

Auch eine Grenzerfahrung mit Massen machten wir im südkoreanischen Gyeongju, der Hauptstadt des alten Königreichs Silla. Dort sind zahlreiche, bis zu 25 Meter hohe Gräber von Königen und Aristokraten aus dem 7. bis 9. Jahrhundert sowie darin gefundene Grabbeigaben zu besichtigen. Auf einer riesigen Fläche, sehr eindrücklich.

Ebenfalls sehr eindrücklich war die kommunikative Motivation der südkoreanischen Schulkinder, welche diese Gräber besuchten. Hunderte Gruppen mit tausenden Kindern zogen durch das Gelände und an uns vorbei. Offensichtlich inspirierten wir sie dazu, ihre Englischkenntnisse auszuprobieren.

Die ersten 100, welche unsere Reaktion auf ihr „Hello!" testeten, grüssten wir freundlich. Bei den nächsten 100 wurden wir leicht ungehalten. Die nächsten 100 fingen uns an zu nerven. Doch wollten wir sie auch nicht demotivieren, weshalb wir versuchten, uns unsichtbar zu machen. Jedoch erfolglos (Kleidung, Grösse, Haarfarbe, zu zweit unterwegs – das fiel auf). Immerhin, so trösteten wir uns, beschränkten sich ihre mündlichen Englischkenntnisse auf das Wort „Hello". Denn ein anderes hörten wir nie. Vielleicht waren sie aber auch einfach zu schüchtern für Dialoge.

Ein ganz spezielles Gruppenerlebnis hat sich übrigens ebenfalls in Asien zugetragen: Vor knapp zehn Jahren wollten wir in Peking eine Reise nach Tibet buchen. Das ginge nur für Gruppen, beschied uns die Frau im staatlichen Reisebüro. Nein, bitte nicht!, geriet ich schon in Panik. Doch konnte sie umgehend Entwarnung geben: Bereits zwei Personen – oder sogar nur eine? – gelten als Gruppe. Das sei bei Tibet-Reisen so. Womit wir zwei eigentlich schon eine ganz stattliche Gruppe waren. Und damit konnten wir die erste Gruppenreise antreten, welche ganz und gar nach meinem Geschmack war. Glücklicherweise, denn im 3650 Meter über Meer gelegenen Lhasa musste man als Flachlandbewohnerin ohnehin ordentlich nach Luft schnappen, weil diese so dünn war. Der Gruppenkoller wäre da wenig hilfreich gewesen.

Es gibt aber auch Fälle, in denen mir das Gruppenfeeling nichts ausmacht. Naja, sagen wir mal nicht so viel. Das sind vor allem Anlässe, welche den Kindern Spass machen. Darunter fallen die Luga und die Määs: Bratwurstschwaden, Massagegeräteverkäufer und Präsentatoren der schärfsten Gemüsehobel ever liessen mich früher sofort reissaus nehmen, wenn die Ausstellung in Sicht kam. Seit die Kinder etwas grösser sind, bin ich sozusagen Stammgast und freue mich über alles, was die Kinder freut. Jedenfalls über fast alles.

Und ein anderes Beispiel: Ende April tummelten wir uns zusammen mit rund 14'000 Laufenden und 20'000 Zuschauenden am Luzerner Stadtlauf. Was normalerweise für mich ein Gräuel ist, wurde zum bereichernden Event. Und zur Überraschung: Ich hatte erwartet, dass ich den Vierjährigen mindestens einen Teil der gut 1,5 Kilometer langen Laufstrecke würde tragen müssen. Doch auch er liess sich von der Euphorie anstecken und kam ohne Trag-Unterstützung ins Ziel.

Womit hier ganz offiziell und ohne mit der Wimper zu zucken gesagt sei: Masse sei Dank! - 9. Mai 2016

Zur Person
Karin Winistörfer, geboren 1974 in Biel, ist seit Herbst 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern. 2001 schloss sie das Studium der Geschichte mit dem Lizentiat ab. Bis 2012 war sie Journalistin und Redaktorin im Ressort Kanton der Neuen Luzerner Zeitung. 2012 bis 2014 absolvierte sie an der Universität Luzern einen Master in Methoden der Meinungs- und Marktforschung. Karin Winistörfer wohnt mit ihrem Partner und ihren zwei Kindern in der Stadt Luzern.