Rechtsstaat

Von Judith Stamm

Vor längerer Zeit wurden spezielle Worte in die Diskussion eingebracht: „Scheininvalide“, „Sozialschmarotzer“, „Asylmissbraucher“. Die Worte waren griffig, wurden akzeptiert und vergifteten die Debatte. Dem Vernehmen nach sollten sie dazu dienen, auf Missstände aufmerksam zu machen. Warum es nötig ist, ganze Gruppe von Menschen zu verunglimpfen, um Missstände zu bekämpfen, weiss ich bis heute nicht. Aber es fiel mir schon damals auf, dass es schwächere Gruppen der Gesellschaft waren, auf denen verbal herumgetrampelt wurde.

Jetzt sind wir wieder soweit. Diesmal sind es nicht nur schwächere Gruppen, sondern solche, die ganz sicher keine Lobby haben. Bei den einen handelt es sich um „straffällige Ausländer“. Unter dem Titel „für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“ wurde eine Volksinitiative vom Schweizervolk angenommen. Der Nationalrat hat die Umsetzung in Form eines Gesetzes in der letzten März-Session beraten. Und einem detaillierten Delikte-Katalog mit einem Ausschaffungsautomatismus zugestimmt. Damit ist das Prinzip der Verhältnismässigkeit, wie es in der Bundesverfassung verlangt wird, ausgehebelt. Noch ist nicht aller Tage Abend. Das Geschäft geht an den Ständerat. Affaire à suivre!

Vor einer ähnlichen Entscheidung stehen die Stimmberechtigten am 18. Mai mit der Pädophilen-Initiative. Wieder geht es um eine Gruppe ohne Lobby, nämlich um Sexualstraftäter, die sich gegen Kinder oder Abhängige strafbar gemacht haben, aber längst nicht alle pädophil sind. Und wieder soll bei der Verurteilung eine automatische Konsequenz eintreten, nämlich ein „endgültiges“ Berufs- oder Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen. Ob die Tat leicht oder schwer war, soll keine Rolle spielen. Wieder würde das Prinzip der Verhältnismässigkeit ausgehebelt.

Sind uns die Errungenschaften des Rechtsstaates nichts mehr wert, frage ich mich? Aber wir wehren uns doch alle, wenn wir uns von staatlichen Massnahmen unverhältnismässig betroffen fühlen, sei es im Baurecht, im Steuerrecht, im Strafrecht oder in welchen Bereichen auch immer. Da gibt es Möglichkeiten des Einspruches, und diese werden rege genutzt.

Wieso wollen wir heute straffällige Ausländer und Sexualstraftäter anders behandeln als den Rest der Bevölkerung?

Ich habe mich in letzter Zeit intensiv mit diesen Abläufen befasst. Und habe festgestellt, dass sie an vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern unbemerkt vorbeigehen. Es handelt sich ja bei den Betroffenen um Randgruppen unserer Gesellschaft. Und wer hat schon Kontakt mit einem straffälligen Ausländer oder einem Sexualstraftäter?

Ich weiss nicht, warum sich angesichts solcher Entwicklungen in meiner Erinnerung immer wieder eindringlich ein Text meldet, der vor Jahrzehnten aktuell war. Er wird Pastor Martin Niemöller zugeschrieben, der von 1941 – 1945 im Konzentrationslager Dachau lebte und nach Kriegsende verschiedene Ämter in der evangelischen Kirche Deutschlands versah. Er lautet:

„Zuerst kamen sie, um die Sozialisten zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Sozialist.

Dann kamen sie, um die Gewerkschafter zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Gewerkschafter.

Dann kamen sie, um die Juden zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Jude.

Dann kamen sie, um mich zu holen. Und es war niemand mehr da, der etwas hätte sagen können.“

Von diesen Zeiten sind wir weit, weit entfernt. Und wir leben in einem Staat, in dem die Obrigkeit nicht einfach in das Leben eines Einzelnen eingreifen darf. Ausser, die Obrigkeit könne sich auf eine rechtliche Grundlage stützen. Dass diese rechtliche Grundlage weiterhin auf den Prinzipien des Rechtstaates ruht, dafür ist in der direkten Demokratie die Stimmbürgerschaft verantwortlich. Wollen wir wirklich die Äste absägen, auf denen wir alle auch sitzen?

4. Mai 2014

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und deren Rütlikommission. Heute geniesst sie ihren Ruhestand in Luzern.