Über stromlinienförmige „Meinungen“

Von Meinrad Buholzer

"Jeder von uns, ob Gläubiger oder Atheist, Mann oder Frau, muss den Mut aufbringen, in Frieden zusammen zu leben und jeden andern Menschen zu akzeptieren."

Wenige werden diesem Satz widersprechen. Er ist mehrheitsfähig. Er gibt einen positiven Rat für unser Verhalten im Alltag. Er stimmt überein mit den bei uns breit akzeptierten ethischen Vorgaben. Man könnte ihm allenfalls vorwerfen, dass er ein wenig zu stromlinienförmig und austauschbar in der Meinungslandschaft liegt.

Warum befällt mich trotzdem ein Unbehagen, wenn ich solche Sätze lese? Es hat weniger mit dem Inhalt als mit der medialen Verbreitung und der gedankenlosen Vervielfältigung solcher Statements zu tun, und wie sie ein Eigenleben entwickeln, bei dem sie allmählich die Bodenhaftung verlieren.

Am Anfang steht dieser Satz, sagen wir: in einem Interview dahingesprochen (er könnte auch in einem politischen Manifest stehen). Er gibt glaubhaft die Überzeugung der interviewten Person wieder, und wir wollen ihr zugestehen, dass sie zuvor ehrlich darüber nachgedacht hat. Das Medium schneidet aus der Fülle des Interview-Materials ein Konzentrat und wir können darauf wetten, dass dieser Satz drin bleibt, dass er es vielleicht in den Titel schafft. Denn es ist ein brauchbarer Satz, er zeigt die Haltung der interviewten Person, lässt sie sympathisch erscheinen.

Aber mit der unwidersprochenen Verbreitung löst sich das Statement von der Person und wird unpersönlich Es bekommt ein Eigenleben, gewinnt an Dynamik, wird (mehr oder weniger besinnungslos) nachgebetet, zum Gemeinplatz, zur Redensart, zur Phrase. Kurz: Die Qualität der Aussage nützt sich ab, verbraucht sich. Wie beim Strom: Je länger er durch Leitungen fliesst, desto grösser die Transport-Verluste.

Zugleich setzt sich das Statement in unserem Gedächtnis fest, wird zu einem Lego-Stein praktischer Alltagsphilosophie, die wir uns aus medialen Fundstücken zusammenbasteln. Dann, eines schönen Tages, kommen die Meinungsforscher und wollen wissen, was wir über dies und das denken. In dieser Situation – man steht unter Druck, der Meinungsforscher hat nicht ewig Zeit, will seinen Fragebogen schnell abhaken – besinnen wir uns zuallererst auf solche Lego-Steine. Sie stehen auf Abruf bereit und – husch, husch – sind sie Bestandteil der veröffentlichten Meinung.

An diesem Punkt beginnt mein Misstrauen. Weil man weiss, dass die Leute gerne das sagen, was „man“ nach ihrer Ansicht hören will. Sich so zeigen, wie sie wahrgenommen werden möchten. Auch weil sich anders verhält, wer unter Beobachtung steht. (Das war schon so, als McKinsey an seinem berüchtigten Sexreport arbeitete; einige haben ihr geheimes Sexleben aufregender geschildert als es tatsächlich war.)

Zuweilen sind die Widersprüche zwischen den publizierten Meinungen und dem Verhalten im Alltag eklatant. Da steht die Sorge um die Umwelt seit Jahren an der Spitze solcher Umfragen, aber im Alltag merkt man sehr wenig: Es wird immer noch mehr herum gefahren, und sehr beliebt sind die Geländefahrzeuge für den Verkehr auf gut ausgebauten, urbanen Asphaltstrassen. Nach grösseren Anlässen lassen die umweltbesorgten Schweizer ihren Unrat unbesorgt und in Massen liegen.

Bemerkenswert ist, wenn man den Blick über ein paar Jahrzehnte schweifen lässt, der Meinungsumschwung gegenüber Homosexualität. Manchmal zweifle ich an der Nachhaltigkeit dieses Wandels, und ich frage mich, ob er standhält, wenn der Wind wieder umschlägt. Die Haltung zum Krieg: Man könnte meinen, wir seien, bei grundsätzlicher Bejahung der Verteidigungsarmee, ein pazifistisches Völkchen. Aber was, wenn die Bedrohung in unserer unmittelbaren Nähe wüchse? Manchmal hört man schon aus weit geringerem Anlass martialische Töne aus einer bestimmten Ecke. Oder die Todesstrafe. Wir glauben, sie hinter uns gelassen zu haben. Und doch gibt es immer wieder vereinzelte Stimmen, die nach ihr rufen.

Mir scheint, wir bewegen uns auf einem sehr labilen Grund, und nicht nur die Klimaerwärmung könnte unser wohlgeordnetes Gefüge bedrohen. Vor allem dann, wenn die veröffentlichte Meinung von dem abweicht, was des Volkes Seele bewegt, wenn sie sich unbeobachtet fühlt.

PS: Das erwähnte Zitat, an dem ich nichts auszusetzen habe, stammt übrigens von der libanesischen Sängerin Yasmine Hamdan (sie war u.a in Jim Jarmuschs Film „Only Lovers Left Alive“ zu sehen).
4. Oktober 2015

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.