Vom verlorenen Spielraum

Von Meinrad Buholzer

Eine Wanderung mit einem Freund brachte uns in ein Dorf, nicht weit von Luzern, das ich sonst nur aus der Perspektive der Hauptstrasse oder der Eisenbahn kenne. Verblüfft sah ich die Hinterhöfe, die sich an die älteren Wohnhäuser anschlossen. Da gab es Wiesen, alte Holzbauten, Schuppen, Hühner- und Kaninchenställe, Gemüsebeete, kleine Obstgärten. Wer sich hauptsächlich auf öffentlichen Gehwegen in Städten und Agglomerationen mit den dauerbemähten Rasen, den landschaftsarchitektonisch gepflegten Vorgärten und den Suva-konformen, durchreglementierten Kinderspielplätzen bewegt, muss annehmen, dass der Hinterhof (ob umsorgt oder vernachlässigt) sang und klanglos aus unserem Erfahrungshorizont entschwunden ist.

Mich überkamen Erinnerungen: So sahen die Dörfer in meiner Kindheit aus. Keine Spielplätze. Dafür eine für kindliche Vorstellungen unerschöpfliche Topographie, in die man sich zurückziehen und in der man sich, unbeaufsichtigt, verlieren konnte. Sie regte die Phantasie an – die war nicht vorgegeben durch Spielzeug- und Gerätehersteller, die das selbstverständlich mit dem Attribut „pädagogisch wertvoll“ versehene Abenteuer am Computer planen und determinieren. So dass für kindliche Phantasie vor lauter Spielvorgaben kein Spielraum mehr bleibt.

Mein Freund brachte einen weiteren Verlust zur Sprache: In den Dörfern unserer Kindheit war das Handwerk präsent: Der Bäcker, der Metzger und der Käser, der Schreiner, der Schmied, der Sattler und der Schuhmacher – sie alle führten ihr Handwerk in ihren Arbeitsstuben und Werkstätten quasi halböffentlich aus. Und die Kinder schauten ihnen zu, sie bekamen einen Eindruck von all den Tätigkeiten und wuchsen so beiläufig, von ihren je eigenen Interessen getrieben oder durch zufällige Aha-Erlebnisse, in die Arbeitswelt hinein. Abgesehen davon, dass man dabei auch die eine oder andere Fertigkeit mitbekam, die sich im Alltag als nützlich erweisen sollte.

Davon sind wir heute weit entfernt. Das Handwerk ist jetzt in normierten, uniformen Schachtelbauten in Gewerbezonen untergebracht, wohin kein Kind sich verirrt – und sollte es trotzdem dorthin gelangen, so wird es schnell wieder entfernt, denn es hat dort nichts zu suchen, sein Aufenthalt dort ist sogar suspekt. Verloren haben wir mit dieser Verbannung des Handwerkes aus unserer Mitte die anschauliche Erfahrung der Welt – auch durch Gerüche (Bäckerei, Käserei), Geräusche (Schreinerei, Schmiede, Spenglerei), vielleicht auch taktil (Sattler, Schreiner) usw. Fast nur noch auf Bauernhöfen findet man heute einen vergleichbaren Einblick in diese Arbeitswelt.

Nostalgische Schwärmerei von alten Männern? Mag sein. Überdies schafft sich jede Zeit ihre Kompensationen für Verluste. Wer will bestreiten, dass die kleinen Do-it-yourself-Filmchen auf Youtube, die uns sehr verständlich erklären, wie man dies am besten auseinander nimmt und jenes flickt, sehr nützlich sind? Sie sind, Internetanschluss vorausgesetzt, allen und jederzeit zugänglich. Eine echte Demokratisierung handwerklichen Wissens.

Aber gegen einen schulfreien Nachmittag, an dem man mit Kollegen das Dorf unsicher gemacht, beim Schreiner um Abfallholztütschli gebettelt und vielleicht sogar den Metzger geärgert hat, haben diese Filmchen – Nostalgie hin oder her – keine Chance.
11. Januar 2017

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.