Was heisst es, mit knappen Mitteln zu leben? Frau Knapp berichtet

Von Agatha Fausch

Ich habe ältere Menschen, von denen ich weiss, dass sie mit knappen Mitteln leben, gefragt. So habe ich mich auf das Referat vorbereitet. Ich glaubte, das Thema sei einfach zu erschliessen. Aber keine und keiner mochte offen darüber reden. Fast alle wechselten das Thema oder wichen aus. Gesprächsfetzen dazu ergatterte ich fast nur hinter vorgehaltener Hand und immer „unter vier Augen“, mit dem Nachsatz „Das braucht niemand zu wissen“.

Knappe Mittel? – Das ist tabuisiert. In den Gesprächen habe ich Kränkung und Scham wahrgenommen. So berichte ich – anonymisiert – von einer Rentnerin, nennen wir sie Frau Knapp.

Frau Knapp, gelernte Buchhändlerin, heute 77-jährig, hat viel und lange gearbeitet. Sie ging mit 64 in Rente. 24-jährig hatte Frau Knapp geheiratet und hatte dann zwei Kinder. Neun Jahre später wurde die Ehe geschieden. Sie suchte wieder Arbeit in ihrem angestammten Beruf in der Buchhandlung, vorerst Teilzeit.

Heute lebt Frau Knapp von ihren beiden Renten-Einkommen; es sind monatlich total 3100 Franken. Wenn die Miete für ihre Dreizimmerwohnung, die Krankenkasse und die Steuern bezahlt sind, bleiben ihr noch 1400 Franken für ihren Lebensbedarf. Konkret heisst das, Frau Knapp darf pro Tag nicht mehr als 43 Franken ausgeben.

Frau Knapp hat zu essen und zu leben, sie muss nicht unter der Brücke schlafen. Trotzdem lebt sie in prekären Verhältnissen. Wie geht das? Frau Knapp ist „gwehrig“ und tapfer. Sie hat Strategien im Umgang mit knappen Mitteln. Diese hat sie in ihrer Zeit als Alleinerziehende erworben.

Frau Knapp achtet auf gesunde Ernährung und bewirtschaftet deshalb einen Pflanzblätz. So umgeht sie die Auslagen für teure Bioprodukte und spart sich die Kosten für ein Fitness-Abo. Sie arbeitet im Vorstand des Familiengärtnervereins mit. So reduziert sich die Miete für ihren Garten. Der Vorstand macht jährlich einen zweitägigen Ausflug. Doch jedes Jahr muss sie einen anderen Vorwand ausstudieren, um zu begründen, weshalb sie nicht auf die Reise ins Elsass oder ins Südtirol mitgeht. Die 300 Franken für diese Reise hat sie nicht.

Aus dem Nachlass ihrer verstorbenen Eltern – heute noch 42’000 Franken – bezahlt sie ausserordentliche Auslagen wie

  • ihre neue Brille
  • im Frühjahr die Setzlinge für die Bepflanzung ihres Gartens
  • einen Kreativ-Kurs bei Pro Senectute
  • oder sie ersetzte kürzlich das Radio, das sich nicht mehr reparieren liess.

Frau Knapp verzichtet auf Ferien. Dafür reist sie jedes Jahr im Herbst für sechs Wochen nach Elba. Dort bewohnt sie das kleinste der drei Ferienhäuser ihrer Freundin. Sie betreut die wechselnden Feriengäste in den andern beiden Häusern. Ihre Freundin schätzt es, sich für diese Zeit von ihrem „Altersjob“ – der Verwaltung ihrer Ferienwohnungen – entlasten zu können. Gerne nutzt sie jeweils Frau Knapps Stadtwohnung in Luzern. Ein Tauschsystem, das beiden viel bringt.

Als Frau Knapps PC aussteigt, ersetzt sie diesen nicht. Seither lebt sie ohne Internet. Zum Telefonieren benutzt sie ein altes prepaid-Handy.

Für Frau Knapp ist es wichtig, mit ihren Steuern und laufenden Rechnung à jour zu sein. Sie übt eiserne Disziplin im Umgang mit ihren Barauslagen. Um einzuteilen, hat sie lediglich eine Maestrokarte. Am Automaten bezieht sie Geldbeträge in kleinen Noten. Ein fast leeres Portemonnaie mit kleinen Noten, das schützt sie vor grossen Ausgaben.

Sie sehen, Frau Knapp bewältigt ihre prekäre Situation mit List, mit Stolz, mit Phantasie und auch sehr kreativ.

Was jetzt folgt, damit hatte Frau Knapp nicht gerechnet. Sie hat ein Problem mit ihren Zähnen; Spätfolgen der Schwangerschaften. Der Zahnarzt empfiehlt ihr eine Vollprothese. Sie hofft, dass die Situation mit Implantaten gerettet werden könnte. Die Vorstellung, sich alle Zähne ziehen zu lassen, ihren „Biss“ zu verlieren, ist für sie unerträglich.

Frau Knapp hasst solche Situationen, ihr kleines Einkommen belastet sie. Dass sie – trotz lebenslangem Engagement in Familie und Beruf – nicht in der Lage ist, ihre Bedürfnisse im Alter finanziell abzudecken, das findet sie ungerecht und auch beschämend.

Frau Knapp fragt sich:

  • Wie lange noch ? Werde ich gesund bleiben?
  • Wie ist es, wenn nicht nur die Augen, sondern auch das Gehör schlechter wird?
  • Was ist, wenn der Vermieter vorwärts machen und die Mietwohnung sanieren will? Einen höheren Mietzins kann sie nicht bezahlen.

Frau Knapp ist keine Ausnahme. Viele Rentner und noch mehr Rentnerinnen arbeiten ein Leben lang und kommen im Rentenalter finanziell trotzdem schlecht über die Runden. Ein Renteneinkommen zwischen 3000 und 4000 Franken ist für viele ältere Menschen ganz normal.

Frau Knapp hat ihr Alter im Pensionierungskurs geplant. Sie nahm das Mindesteinkommen – damals 3000 Franken – als Richtschnur für ihren Ruhestand. Heute reden die Gewerkschaften von einem Mindesteinkommen von 4000 Franken.

Für Frau Knapp läuft heute ihre damalige Budgetierung aus dem Ruder. Jetzt streicht sie die Fusspflege ganz. Und sie geht nur noch zwei Mal pro Jahr zum Coiffeur. Solche Verzichte nagen an ihrem Selbstbewusstsein. Sie ist in ihrer Identität verletzt und verunsichert. Erstmals bezahlt sie ihre Steuerrechnung nicht.

Doch es gibt Unterstützung für alte Menschen mit knappen Mitteln. In unserem Wohlfahrtsstaat wurden – seit der Einführung der AHV – unterschiedliche staatliche, halbprivate und private Kassen eingerichtet. Doch es ist nicht einfach, sich im Dschungel dieser ergänzenden Hilfen zu orientieren. Es gleicht einer Odyssee, die richtige Kasse zu erschliessen. Es gilt Merkblätter zu lesen, Fristen zu beachten, umfangreiche Formulare auszufüllen und sie an der richten Stelle einzureichen.

Die Tochter von Frau Knapp will jetzt, dass ihre Mutter EL beantragt. Sie unterstützt sie bei der Recherche. Vielleicht liegt sogar ein Zuschuss an die Mietkosten – AHIZ – drin?

Auf der AHV-Zweigstelle in Luzern erfährt Frau Knapp:

  • Dass ihr Vermögen und das Einkommen für eine EL und für den Mietzinszuschuss zu hoch seien.
  • Hingegen kann sie sich – aussichtsreich – für Beiträge an die Krankenkassenprämien bewerben.
  • Und: Die EL würde – wenn sie dereinst fliesst – Franchise- und Selbstbehaltkosten der Arztrechnungen rückvergüten.

Im Sozial Info REX wird Frau Knapp ermuntert, sich bei der Pro Senectute Beratungsstelle zu melden und für individuelle Hilfe (IF) anzufragen. Möglich, dass man ihr dort das Geld für den Vorstands-Ausflug mit den Familiengärtnern organisieren kann.

 Zum Schluss die Frage: Was könnte Frau Knapp unterstützen?

  • Eine offensive Information, mit der sie ermutigt wird, Hilfe und Unterstützung  zu suchen. Dies, bevor die knappen Mittel prekär werden. Ich denke da an eine rechtzeitige Benachrichtigung durch das Steueramt, sich bei der AHV-Stelle zu melden.
  • Gut ist der Schreibservice im Sozial Info REX und auch die Hilfe bei der AHV-Zweigstelle. Dort kann Frau Knapp ihre Gesuche stellen, und sie wird dabei unterstützt.
  • Und es ist wichtig, dass sich ältere Menschen auch Kultur und Weiterbildung leisten können, ein Kinobillet, Theater, ein Konzert. Da kann die KulturLegi der Caritas Luzern helfen.
  • Sie müssen auch Kurse besuchen können, um weiter zu kommen, um ihre Gesundheit zu fördern und auch um sozial eingebunden zu bleiben.

Das müsste bei der Berechnung des Existenzminimums mitgedacht werden und dies nicht nur mit einem „Schmürzeli-Beitrag“.

Referat gehalten an der Veranstaltung „Knappe Mittel im Alter“ des Forums Luzern 60plus.
1. 12. 2016

Zum Veranstaltungsbericht “Knappe Mittel im Alter: Ein Tabuthema zur Diskussion gestellt“

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