Traumziel Realp 

Von Beat Bieri

Der etwas ignorante Zeitgenosse könnte womöglich der Ansicht sein, der Kanton Uri habe seine grosse Zeit bereits Jahrhunderte hinter sich: Seit Wilhelm Tell, Rütli und später allenfalls noch dem Tunnelbau sei das Land am Gotthard tief in den Schatten der Bergflanken gesunken. Und selbst die Neat sei doch lediglich dazu da, möglichst schnell unter dem schroffen Land hindurch in den Süden zu gelangen.

Doch nun lassen neuste Erhebungen erkennen: Dieser unterschätzte, verkannte Urkanton ist eigentlich ein „Traumziel“. So hat es das renommierte US-Magazin „National Geografic Traveller“ festgestellt und Uri zu einer von 21 weltweiten Trenddestinationen für 2017 erklärt. Doch damit nicht genug: Im Traumziel lässt sich auch günstig leben, wie eine Studie der Credit Suisse erhoben hat. Uri führt (mit Glarus) die Rangliste der finanziell attraktivsten Schweizer Kantone an. Und nicht nur kostengünstig: Die Axa-Versicherung attestiert Uri, die sichersten Autofahrer zu haben, die am wenigsten Unfälle verursachen.

Ich weiss schon längst, dass dies ein ganz besonderer Kanton ist.  Bei mehreren beruflichen Streifzügen in Uri habe ich dort einige aussergewöhnliche, eigenwillige, starke Menschen getroffen.

Die grösste Ueberraschung erlebte ich aber bei einer Recherche über die Geschichte der Schweizer Fremdenfeindlichkeit zuoberst im Kanton, hinten im Urserntal, auf 1550 Meter über Meer. Dort liegt zwischen Furka und Gotthard das kleine Realp, 150 Einwohner, geschützt von einer haushohen Mauer gegen Naturgewalten. Die Namen auf dem Friedhof klingen unverdächtig: Simmen, Regli, Nager, solide Urner Namen. Doch die Menschen mit diesen Namen lassen staunen: Seit fast 50 Jahren stimmt Realp anders ab als eigentlich alle anderen Dörfer der Alpen. 

Schon 1970 war dies der Fall, als die Schweiz über die erste Überfremdungs-Initiative, die Schwarzenbach-Initiative befand. Der Kanton Uri hatte damals mit 63 Prozent Ja-Stimmen schweizweit am höchsten zugestimmt. Nur die Realper sagten nein, mit 25 gegen 20 Stimmen.

Auch 22 Jahre später, bei der EWR-Abstimmung, zeigten sich die Bewohner des höchstgelegenen Urner Dorfers nicht eingeschüchtert von der Aussicht, im EWR mitzumachen und stimmten zu (was bösartige Mit-Urner frotzeln liess, die Realper hätten wohl gemeint, beim EWR gehe es um ein Elektrizitätswerk Realp). Und so konnte es schliesslich auch nicht überraschen, dass hinter im Urserntal die SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung erfolglos blieb. Was die mythenbewirtschaftende SVP besonders ärgern muss, wird doch dort oben am Gotthard, gleich neben Realp, die Seele der Schweiz vermutet.

Erkundigt man sich vor Ort, woher diese solide Eigenwilligkeit herrührt, begegnet einem zuerst mal Schulterzucken. Der langjährige Gemeindeschreiber Karl Cathry stellte jedenfalls resolut in Abrede, dass Realp ein besonderes, eigenartiges Dorf sei. Und was Ausländer sind, weiss man hier durchaus: Gegenwärtig sind rund 15 angemeldet. Doch in den siebziger Jahren, als der der Furktunnel gebaut wurde, waren es auch schon 300 , vor allem Oesterreicher und Jugoslawen. Die Realper waren damals die Minderheit im Dorf.

Und vor drei Jahren verfrachtete der Bund 173 Asylbewerber nach Realp. Niemand opponierte laut. Nun gut, die Afrikaner, Araber und Asiaten wurden etwas weiter bergwärts, auf 1700 Meter in einer unterirdischen Armeeunterkunft versteckt. Für das Bergdorf hatte das Menschenexperiment keine nachteiligen Folgen, denn die 39 Asylbewerber, die untertauchten, taten dies nicht in Realp.

Warum ist Realp bloss so anders? Nach einigem Abwägen meinte der einstige Gemeindeschreiber, vielleicht habe es mit der Geschichte des Dorfes zu tun: Seit jeher habe man hier oben Lawinenkatastrophen erleiden müssen und dabei viel auswärtige Hilfe erfahren dürfen. Womöglich hat dies das Bewusstsein geschärft, dass es den Andern braucht.

(Und noch ein Lesetipp: Im Buch „Diese Urner“, letztes Jahr in Limmat-Verlag herausgegeben von Susanne Perren und Eva Holz, findet man 16 anregende Porträts von bemerkenswerten Menschen aus diesem Kanton.) 

Zur Person

Beat Bieri (1953), geboren in Luzern und dort mit seiner Familie immer noch wohnhaft, arbeitete in den siebziger und achtziger Jahren für die «Luzerner Neuste Nachrichten»,  war danach Redaktor beim Wirtschaftsmagazin «Bilanz». Seit über 20 Jahren wirkt er nun für das Schweizer Fernsehen, heute als Dokumentarfilmer. Eine Reihe von Filmen (unter anderem «Neue Heimat Lindenstrasse») hat er mit dem Luzerner Journalisten Ruedi Leuthold realisiert.