Der Flaneur ist unterwegs (14)

24 Fragen – und keine Antworten im Adventskalender

Von Karl Bühlmann

Advent ist weit weg, Dezember ein horribler Monat: Fristverlängerung für die Steuererklärung, Rapporte, Jahresziele, Budgets, Dankes- und Festtagswünsche, Bettelbriefe und Konzerte zuhauf, immer fröhlich grüssen. Aufräumen, Entsorgen, Einwintern, gehetzte Black Friday und Schnäppchen-Gesichter. Es bimmelt und leuchtet in der Stadt und aus den Kanaldeckeln strömt die Glühweindunstglocke und nebelt die Laune süsslich ein.
Im Dezember habe ich keine Türchen am Adventskalender geöffnet. Sondern ich notierte 24 Fragen, auf die ich alle, im Trubel der Zeit, keine Antworten fand.

1. Warum hat Facebook im letzten Quartal sechs Milliarden Euro verdient und wie konnte Google dank der systematischen Ausbeutung von persönlichen Daten von uns allen die Einkünfte in den letzten zehn Jahren um 3500 Prozente steigern?

2. Warum besteht die Hälfte der täglichen Sendezeit in Radio DRS 1 aus Wiederholungen und Vorankündigungen?

3. Warum plant der Bund eine „Überbrückungsrente“ für alte Schweizer Milchkühe und geht dabei von der Vermutung aus, dass ältere Wiederkäufer weniger Methan-Treibhausgas rülpsen oder furzen?

4. Warum ist heute mein Frühstücksei vom Huhn mit Auslauf ins Freie, wohnhaft in einer mit Stroh eingestreuten Liegefläche, unter Kontrolle des Schweizer Tierschutzes, nicht aromatischer als ein Billig-Ei?

5. Warum hat der notorisch lügende Narzisst in Washington D. C. noch immer nicht wegen eines unaufmerksam verschluckten Truthahnknochens seine Stimme verloren?

6. Warum schreiben die Journis, dass Raser-Autos über die Seebrücke brettern oder dass Geld in die Kasse gespült wird? (Ist die Seebrücke aus Holz, die Kasse eine spülrandlose WC-Schüssel?)

7. Warum bleibt Michael Haefliger 26 Jahre lang Intendant des Lucerne Festivals derweil Präsident Hubert Achermann nach 11 Jahren weggeputscht wird?

8. Warum heisst es „Luzerner Reh“ auf der Wildspezialitäten-Karte im Restaurant, obwohl es sehr gut möglich ist, dass das Reh im Kanton Aargau geboren wurde und aufwuchs und erst viel später bei einem Grenzübertritt in den Kanton Luzern das Pech hatte, vor eine Flinte zu laufen?

9. Warum hat Roger Federer nach 21 Jahren vom Tenniszirkus noch nicht genug (verdient) und nimmt 2020 einen weiteren Anlauf, um loszulassen?

10. Warum brauche ich, um die Glühbirne aus der Plastikverpackung zu befreien, eine Geflügelzange und hierauf, um das Heftpflaster um den blutenden Finger zu kleben, nochmals eine Schere mit Hamaguri-Schliff?

11. Warum erwirbt das Kunstmuseum Luzern für einen sechsstelligen Betrag ein Bild von William Turner, das in den nächsten Jahren als Einzelstück wohl viel Zeit einsam im Depot verbringen und keine Chinesen im Bus anlocken wird?

12. Warum sind Chris Rohr schon eine Letschend und René van Eck ein Kult-Trainer? (Sie leben doch noch?)

13. Warum steht auf dem Etikett meines neuen Pjamas Oeko-Tex 40%-Solar Power? Wurde die Nähmaschine der Näherin in Bangladesch von einer Fotovoltaik-Anlage auf dem Dach der Fabrik mit Strom gespiesen?

14. Warum zahlen viele Leute im Dezember 100 Franken und stehen dann einen Tag lang wenigstens einmal zu Lebzeiten mit Namen in der Zeitung?

15. Warum lachen Küpfers Adrian, Michael Brunner, Elena Bernacsconi und ihre moderierenden Radiokolleginnen und -Kollegen morgens früh schon unentwegt über die eigenen Witzchen und die vermeintlich lustigen Antworten?

16. Warum steigt mit der Zahl der demonstrierenden Klimajugendlichen gleichzeitig die Zahl der verkauften Ferien-Flugtickets?

17. Warum posten Fussballer ihre Tattoos aus den Ferien in Dubai und Fussballerfrauen zeigen sich mit Vorliebe auf den Selfies mit viel nackter Haut, gebräunt in brasilianischen Bikinis?

18. Warum geht nichts mehr ohne Superlativ? Die schönste, der beste, das dümmste, der renommierteste, die berühmteste, das älteste, die jüngste, der reichste, das ärmste, das gescheiteste, die sportlichste, das teuerste, undsoweiterundsofort?

19. Warum streicht Nestlé in der Thomy-Fabrik in Basel zuerst 100 Stellen und nennt die Neuausrichtung jetzt „Kompetenzzentrum für Senf und Mayonnaise“?

20. Warum darf ich jemanden mit Migrationshintergrund nicht mehr fragen „Woher kommen Sie“? (Ich frage ja auch: Meyer vom Seetal oder Meier vom Hinterland?)

21. Warum läuft der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der mit der Tötung von Jamal Kashoggi-dringend in Verbindung gebracht wird, an internationalen Konferenzen frei herum?

22. Warum klagt ein 62Jähriger erst nach 50 Jahren, dass er als Ministrant in der Sakristei die Hosen runter lassen musste? (Darf die Verteidigung auf Verjährungsfrist oder qualitative Gedächtnisstörung pochen?)

23. Warum zahlt jemand 120‘000 Euro für eine aufgeklebte Banane (Achtung Kunst: Manifest gegen Welthandel und Unterdrückung!) oder 80 Millionen Dollar für ein pummeliges Häschen aus rostfreien Edelstahl von Jeff Koons?

24. Warum wohl hat der Philosoph Arthur Schopenhauer uns den Satz hinterlassen: Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit zu lernen, weil sie eine Quelle des Glücks und der Gemütsruhe ist?

25. Greta Thunberg ist für Times-Magazin Person of the year, die Forelle für den Schweizerischen Fischerei-Verband Fisch des Jahres, die Europäische Wildkatze für Pro Natura Tier des Jahres, und Luzern bleibt die beliebteste Stadt der Schweiz. – Ende gut, 2020 wird gut, liebe Leserinnen und Leser, freuen Sie sich – bis der nächste Dezember kommt.
6. Januar 2020

 

Zur Person
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.