Die Patientenverfügung erhält Rechtskraft

Viele ältere Menschen haben im Fall einer schweren physischen oder psychischen Krankheit Vorbehalte gegenüber der Medizin. Sie lehnen lebensverlängernde Eingriffe oder Therapien ab, weil sie für sich keine Lebensqualität mehr erkennen können. Das neue Erwachsenenschutzrecht gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Vorstellungen in einer Patientenverfügung festzulegen, der vom ärztlichen und pflegenden Personal zwingend nachgelebt werden muss.

Ausgangspunkt für den künftig hohen Stellenwert einer Patientenverfügung ist das neue Erwachsenenschutzrecht, das vom Parlament im Rahmen einer Änderung des Zivilgesetzbuches ZGB beschlossen worden ist. Es tritt auf den 1. Januar 2013 in Kraft. Dort heisst es in Artikel 370: „Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.“ Soweit der wichtige Grundsatzartikel. In den folgenden Paragraphen sind weitere Bestimmungen von Bedeutung:

  • „Sie (die urteilsfähige Person) kann auch eine natürliche Person bezeichnen, die im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt die medizinischen Massnahmen besprechen und in ihrem Namen entscheiden soll. Sie kann dieser Person Weisungen erteilen.“
  • „Wer eine Patientenverfügung errichtet hat, kann diese Tatsache und den Hinterlegungsort auf der Versichertenkarte eintragen lassen.“
  • „Ist die Patientin oder der Patient urteilsunfähig und ist nicht bekannt, ob eine Patientenverfügung vorliegt, so klärt die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt dies anhand der Versichertenkarte ab. Vorbehalten bleiben dringende Fälle.“
  • „Die Ärztin oder der Arzt entspricht der Patientenverfügung, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen der Patientin oder des Patienten entspricht.“
  • „Jede der Patientin oder dem Patienten nahestehende Peson kann schriftlich die Erwachsenenschutzbehörde anrufen und geltend machen, dass der Patientenverfügung nicht entsprochen wird.“

Neue Behörde ist gewählt
In diesem bedeutsamen Artikel 373 ZGB ist somit die Form der Durchsetzung einer Patientenverfügung geregelt. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), von der hier die Rede ist, löst auf Anfang 2013 die Vormundschaftsbehörde ab. Die KESB ist eine interdisziplinär zusammengesetzte Fachbehörde, in welcher Justiz, Sozialarbeit, Pädagogik, Psychologie und Ökonomie vertreten sein sollen. Die sieben Mitglieder sind vom Stadtrat vor wenigen Tagen gewählt worden. Präsidentin ist Pia Zeder, Leiterin Vormundschaftssekretariat seit 2009, Vizepräsidentin wird Bettina Bannwart, zurzeit stellvertretende Leiterin des Büros für Gleichstellung Basel-Stadt. Die fünf übrigen Mitglieder der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde sind Ugo Bertona, Sozialpädagoge in der Fachstelle Jugend und Kind Kanton Zug, Susanne Flaad, Juristin und Mediatorin im Rechtsdienst der städtischen Vormundschaft, Thomas Hofstetter, Sozialarbeiter in der Jugendanwaltschaft Kanton Luzern, Anna Messmer, Primarlehrerin und Juristin im Rechtsdienst der Vormundschaftsbehörde, und Bernadette Wagner, stellvertretende Leiterin der städtischen Vormundschaftsbehörde. Die KESB deckt damit schwergewichtig die Disziplinen Recht und Sozialarbeit ab.

Grosses Interesse der Generation 60plus
Die persönliche Patientenverfügung gewinnt bei der älteren Generation und in medizinischen und pflegerischen Berufsgruppen zunehmend an Bedeutung. In Luzern sind es die Patientenstelle Zentralschweiz, das Schweizerische Rote Kreuz (SRK), Caritas und Pro Senectute, welche Menschen beraten und unterstützen, die sich mit dem Gedanken beschäftigen, eine Patientenverfügung zu erstellen. Das Bild ist überall das gleiche: in der Mehrheit überwiegt das Interesse der Generation 60plus. Und es ist konstant gross. Die Caritas Luzern hat pro Monat etwa 100 Anfragen zum Thema Patientenverfügung auf der Hotline. Pro Jahr werden rund 3500 Caritas-Patientenverfügungen ausgefüllt, vorwiegend in der deutschen Schweiz. Zugenommen habe das Interesse auf der Seite der Ärzteschaft, der Pflegenden und der Heime, sagt Beat Vogel, Leiter der Caritas-Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase. Diese Berufsgruppen hätten realisiert, dass mit dem Neuen Erwachsenenschutzrecht in der Praxis ein Quantensprung stattfinde. „Das Recht beim Entscheid über eine medizinische Massnahme liegt nicht mehr beim Arzt oder bei der Ärztin, sondern beim Patienten oder dessen Angehörigen.“

„Das Interesse ist gross“, sagt auch Elisabeth Graf, die beim Schweizerischen Roten Kreuz in Luzern die Beratungen bei der Erstellung von Patientenverfügungen koordiniert. Nicht jede Beratung führt jedoch zu einer Verfügung. Im Jahresverlauf würden rund 30 individuelle Patientenverfügungen ausgefüllt. Auch Pro Senectute Luzern hat viele Nachfragen, wie Geschäftsleiter Peter Dietschi ausführt. Das Formular für eine Patientenverfügung ist Bestandteil des neuen Docupass, der von Pro Senectute Schweiz lanciert wird, für Fr. 19.50 über die Internet-Homepage bestellt werden kann und einem Dossier für die persönliche Vorsorge entspricht (mit Testament und Anordnungen für den Todesfall). Auch Pro Senectute bietet Beratung für jene Menschen an, die eine Patientenverfügung erstellen möchten.

„Wer eine Patientenverfügung errichtet hat, kann diese Tatsache und den Hinterlegungsort auf der Versichertenkarte eintragen lassen.“ So steht es in §371 im neuen Erwachsenenschutzrecht. Die neue Versicherten- oder Gesundheitskarte mit der neuen AHV-Nummer wird von den Krankenversicherern herausgegeben und verwaltet. Welche Stelle dafür verantwortlich ist, dass das Bestehen einer Patientenverfügung auf der Versichertenkarte vermerkt wird, ist noch nicht bestimmt. Damit der Zugriff auf den Text der Patientenverfügung möglichst rasch erfolgen kann, ist es angezeigt, sie beim Hausarzt oder der vorgesehenen Vertretungsperson zu hinterlegen. Noch besser ist es natürlich, wenn ein Betroffener die Verfügung auf sich trägt. Unklar bleibt, warum der Bundesrat nicht vorschreibt, dass der Inhalt der Patientenverfügung auf der Versichertenkarte nachzulesen ist.

Eigeninitiative gefragt
Die Recherchen zum Thema Patientenverfügung machen eines deutlich: Wer eine Patientenverfügung will, muss sich selbst dafür engagieren. Es gibt keine öffentliche Stelle, welche in diesem Sinne aktiv wird. Das neue Erwachsenenschutzrecht gibt zwar der Patientenverfügung den rechtlichen Status und verpflichtet Kantone oder Gemeinden zum Einsatz einer Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde, das Erstellen einer Verfügung jedoch ist Privaten überlassen. „Es wird kaum je eine Stelle geben, welche die systematische Anwendung von Patientenverfügungen überwachen wird“, sagt Pia Zeder, Abteilungsleiterin Vormundschaft in der Stadt Luzern. Wer glaubt, seine Patientenverfügung sei nicht beachtet oder umgesetzt worden, muss sich an die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde wenden und dort eine Beschwerde deponieren.
René Regenass – 30. August 2012