BildGeschichte  09/2016

Das Geisterdorf

Von Erika Frey Timillero

Im Jahr 1976 verbrachten mein Freund und ich einige Monate auf Kreta. Wir wollten eine Auszeit, etwas erleben und viel Zeit zum Lesen haben. So fuhren wir in einem roten Döschwo mit Anhänger los und gingen in Venedig an Bord eines ägyptischen Schiffes, das uns nach Heraklion brachte. Nach einer Rundreise um die Insel liessen wir uns schliesslich in einem Dorf namens Plaka östlich von Chania nieder. Damals gab es dort kaum Touristen. Wir mieteten ein Häuschen mit Blick aufs Meer. Unweit von „unserem" Dorf war vor rund einem Jahrzehnt der Film „Alexis Zorbas" gedreht worden. Für die Leute der Umgebung das Jahrhundertereignis.

Oft machten wir Streifzüge ins wilde Inselinnere. Eines Tages entdeckten wir aus der Ferne die Mauern eines Dorfes. Als wir näherkamen, erkannten wir, dass die Häuser zerfallen und das Dorf ausgestorben war. In den Ruinen, wo einst vielleicht eine Küche oder ein Schlafzimmer war, wucherte jetzt Gras und Gestrüpp. In einer Nische standen noch ein paar zersprungene Tassen und Teller, an einer morschen Tür hing eine verwitterte Hose. Nichts war zu hören ausser Insektengesumm und ab und zu das Meckern einer Ziege. Was mochte hier passiert sein? Uns fielen die abenteuerlichsten Geschichten ein. Wir wussten, dass Kreta im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt worden war. Hatten die Einwohner vor deutschen Soldaten fliehen müssen? Waren sie umgebracht worden? Vielleicht aus Rache, weil sie Partisanen versteckt hatten? Oder waren sie gar in die Entführung des deutschen Generalmajors Kreipe, die als ein besonders waghalsiger Husarenstreich in die Geschichte einging, verwickelt gewesen?

Am nächsten Tag fragten wir unseren Freund, den Bäcker Charilaus, nach den Hintergründen. Die Wahrheit war  enttäuschend profan: Die Einwohner siedelten in die Nachbardörfer um, weil es zu teuer gewesen wäre, eine Stromleitung bis in ihr Dorf hinauf zu ziehen.

Erika Frey Timillero (1951) arbeitet als selbständige Übersetzerin und Lektorin in Luzern. Bis vor zwei Jahren war sie ausserdem als Kursleiterin für Deutsch als Fremdsprache tätig. Nebenbei engagiert sie sich ehrenamtlich für den Chor der Nationen Luzern und ist dort für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.