„Ich konnte nicht durch den Vorhang schauen“

Mit dem Filmemacher Edwin Beeler sprach Beat Bühlmann

„Die weisse Arche“ ist ein intimer, berührender Film. Edwin Beeler beschäftigt sich in seinem neusten Werk mit Spiritualität, mit Sinn- und Wertfragen. Der Filmemacher begleitete verschiedene Persönlichkeiten auf ihrem eigenen Weg zur Selbsterkenntnis und erkundet, wie sie mit der Unabwendbarkeit von Sterben und Tod umgehen. Die Protagonisten sind unter anderen der Kapuziner Martin Germann, der Sterbende begleitet, der frühere Förster Sam Hess, der als Heiler und Mystiker unterwegs ist, der Kunstmaler und Benediktinermönch Eugen Bollin und vor allem die Pflegefachfrau Monika Dreier, die von einer Lawine erfasst wurde und dem Tod nahe war. In Luzern startet der Film am 11. Februar 2016 im Kino Bourbaki.  

Edwin Beeler, du gehst gegen die Sechzig zu, hat dich dein Älterwerden zu diesem Film inspiriert?
Edwin Beeler: Nicht bewusst; ich weiss nicht immer, warum mich ein Thema genau beschäftigt und was bei den Dreharbeiten auf mich zukommt. Ich sehe diesen Film auch nicht als Fortsetzung der „Armen Seelen“, auch wenn er vielleicht bei diesem Thema anknüpft.

Ist das Sterben für dich selber weit weg?
Nein, das ist es nicht. Die Generation vor uns stirbt  langsam weg. Mein Vater ist hochbetagt. Als Kind hatte ich schon Berührungen mit dem Tod gehabt. Mein Vater war ein Gramper bei der Bahn, da kam es immer wieder zu Unfällen. Meine Mutter  hat mir damals gesagt, alle fünf Jahre müsse einer gehen. Zum Beispiel der Friedel Steiner, der mit mir oft in der Rottenküche gespielt hat. Eines Tages sass er nicht mehr da. Es gab nur noch rote Spritzer im Schnee, bei der Weiche, die er auf der Gotthardstrecke hatte freilegen müssen; dabei ist er tödlich verunfallt. Er war für meinen Vater eingesprungen, der an diesem Tag verhindert war. 

Dein neuer Film wirft wieder einen Blick in die andere Welt – was zieht dich dorthin?
Das Sterben, der Tod, das lässt sich nicht in Worte fassen. Das ist eine filmische Welt. Zum Beispiel mit Sam Hess, der die Geister beschwört und die „Altwesen“ aus den Häusern herausholt.

Das fasziniert dich auch?
Wenn ich unsere Welt anschaue, frage ich mich manchmal, für was wir eigentlich leben. Wir produzieren und konsumieren. Doch das schafft keinen Lebenssinn. Vielleicht hat es mit Sehnsucht nach wahren Werten zu tun, dass ich mich mit dem Übernatürlichen befasse.

Kannst du die Arbeit von Sam Hess, der die Häuser aussegnet, nachvollziehen?
Ja, das kann ich durchaus nachvollziehen. Das ist nicht Aberglaube, schliesslich ist auch die Bibel, salopp und unzulänglich formuliert, eine Ansammlung von Geistergeschichten.

Krankheit wird im Alter zunehmend ein Thema, im Film sagt jemand, „Krankheit ist sinnvoll“. Siehst du das auch so? Hast Du keine Angst davor?
Auch mir macht Krankheit Angst. Weniger todesnahe Erfahrungen, wie sie Monika Dreier in der Lawine erlebt hat. Mich ängstigt vielmehr die Gesundheitsmaschinerie in den Spitälern, die sich der Kranken bemächtigt und der du ausgeliefert bist. Das Spital ist ein Wartesaal mit hochtechnologischen Apparaten. Früher kam der Hausarzt auf Besuch, heute musst du in das Permanence Medical Center. Dort herrscht die grosse Anonymität.  

Im Film lobt Pater Martin Germann das Leiden, die Katholische Kirche hat das immer etwas verherrlicht. Das passt nicht recht in unsere Zeit, wo wir uns lieber bei Exit anmelden. Ist Exit für dich ein Thema?
Martin Germann pflegt mit grosser Empathie seinen Mitbruder. Es ist ein Akzeptieren des Leidens, weil wir keine Wahl haben. Wie Jesus, der das auch auf sich genommen hat. Exit? Eher nicht. Ich möchte lieber gut palliativ betreut werden, mit Medikamenten, welche die Schmerzen lindern. Ich weiss nicht, ob der Sekundentod, den sich viele wünschen, ein gutes Sterben ausmacht. Eine solche Abkürzung kann auch eine verpasste Chance sein, um etwas zu bereinigen. Und selber Abschied nehmen zu können.

Beschäftigt dich das überhaupt?
Je länger, je mehr. Das Sterben ist mit vielen Mythen verbunden, zum Beispiel wie die Indianer auf den Berg gehen zum Sterben. Das ist sicher eine klischeehafte, romantische Vorstellung, aber ich könnte mir das vorstellen: Auf den Pilatus wandern, dort auf einem Felsen sitzen und tschüss sagen, mit Blick ins Land hinaus. Aber das wäre natürlich kein Sonntagsspaziergang zur „frohen Aussicht“.

„Die weisse Arche“ spielt in der ländlichen, entlegenen Schweiz. Warum findet bei dir das Sterben nie in der Stadt statt?
Das hat mit meinen Protagonisten und ihrem Lebensumfeld zu tun. Ich arbeite gerne mit Landschaftsbildern, um auf das Nichtsagbare zu verweisen: die Bergwelt, der weite Himmel, die Wälder und Wiesen, das Kloster. Ein Stück weit bin ich auch Ethnograph, der zeigen will, was es noch gibt – und vielleicht bald verschwindet. Die Welt im Kloster, die Kreuzverehrung am Karfreitag. Vielleicht kommt dazu, dass Filme im städtischen Milieu beim Publikum weniger gefragt sind. Populär ist die heile Welt, siehe Schellenursli oder Heidi. 

Ist der Tod für dich ein Freund oder ein Feind?
Der Tod ist für mich der grosse Unbekannte, auch nach diesen intimen Dreharbeiten. Ich war als Beobachter beim Sterben dabei, doch ich konnte nicht durch den Vorhang schauen. Das Sterben ist ein Geheimnis, ich habe keine Ahnung, was da passiert. Aber natürlich habe ich auch Angst vor dem Tod, vor meinem und vor dem meiner Angehörigen.

Es ist ein intimer Film, waren die Dreharbeiten schwierig für dich?
Nein, zu meiner Überraschung eigentlich nicht. Ich musste nur im Raum sein mit der Kamera, war mit zurückhaltendem Blick dabei, ruhig, auf Martin und Monika vertrauend. Ich musste nichts sagen, musste nicht überlegen, welche Worte die richtigen sind.  

Hat der Film deine Sicht auf das Sterben verändert?
Ja. Das Sterben ist ein Übergang in eine andere Welt, der Tod führt in eine andere Dimension, die nicht wirklich zu beschreiben ist. Vielleicht hat sich mein Verhältnis zum Tod etwas gelockert. Aber er bleibt ein Geheimnis; ich weiss nicht, wie es für mich dann sein wird. Den letzten Lebensabschnitt muss jeder alleine gehen.
5. Februar 2016

(Die Bilder zeigen den Kapuziner und Sterbebegleiter Martin Germann und den Heiler und Mystiker Sam Hess)

Mit dem Dokumentarfilm „Rothenthurm – Bei uns regiert noch das Volk“ (1984) trat Edwin Beeler erstmals an die Öffentlichkeit. Seither folgten verschiedene weitere Werke, so unter anderen „Bruder Klaus“ (1991), „Grenzgänge“- Eine filmische Recherche zum Sonderbundskrieg 1847 (1998, realisiert mit Louis Naef), „Gramper und Bosse“ (2005) und zuletzt „Arme Seelen“ (2011). - 25.1.2016