"Kein fröhliches Lied aufs hohe Alter singen"

Körperliche Einschränkungen und oft psychische Belastungen: die Verletzlichkeit wächst im hohen Alter. Doch diese Lebensphase ermöglicht, sich mit der eigenen Biografie zu versöhnen, sagte der deutsche Altersforscher Andreas Kruse in Luzern.

Von Beat Bühlmann

Wieder spielte er am Flügel Musik von Johann Sebastian Bach, wieder liessen sich 120 Anwesende von seiner Musik berühren - und von seinen Darlegungen zum hohen Alter in Bann ziehen: Andreas Kruse, der renommierte deutsche Altersforscher,  war erneut auf Einladung der Stadt Luzern im MaiHof zu Gast. Diesmal zum Thema Verletzlichkeit und Reife im hohen Alter. Er werde "kein fröhliches Lied aufs hohe Alter singen", sagte Kruse zu Beginn seines Vortrages. Kruse weiss, von was er spricht, denn er hat an seinem Institut in Heidelberg eingehend zu dieser Lebensphase geforscht.*

Das hohe Alter habe oft körperliche und psychische Veränderungen zur Folge, die nicht einfach zu bewältigen seien. "Es ist eine grosse Herausforderung, diese Verletzlichkeit zu akzeptieren", sagte Kruse. Das habe er im eigenen familiären Umfeld erfahren. Seine betagte Schwiegermutter habe bei einem Sturz einen dreifachen Beckenbruch erlitten und musste drei Monate im Bett liegen. Seine eigene Mutter, auch über 90 Jahre alt, wurde von einem Schlaganfall betroffen und leide an Parkinson. Die Biologie, so Kruse, sei kein Freundin des Alters. Doch es sei beeindruckend gewesen, wie seine Mutter trotz Sprachstörung das Gespräch mit ihm und den Enkelkindern gesucht habe.

Seelisch und emotional reifen

Alte Menschen könnten durchaus lernen, mit der "Unzuverlässigkeit des Körpers" umzugehen. Sie könnten ihr schöpferisches Potenzial anderweitig nutzen und so eine seelisch-geistige Reife entwickeln. Wesentlich sei, dass das soziale Nahumfeld sie nicht einfach auf Pflege und Demenz reduziere, sondern sie auch als "gebende Menschen" sehe. Kruse nannte vier Kriterien, die helfen, auch die Lebensphase des hohen Alter positiv zu erleben: die Introversion, der Blick nach innen, der erlaubt, das eigene Leben kritisch zu sehen und  als Selbst auch im Rückblick akzeptieren zu können; das Offen sein für Neues, um an der Welt teilzuhaben; die Spiritualität, um die seelisch-geistige Dimension der eigenen Existenz zu erfahren und schliesslich die Generativität, um mit den nachfolgenden Generationen in Verbindung zu bleiben.

Und was bedeutet das für die Alterspolitik? "Es zeigt, dass wir uns viel zu wenig darum kümmern, was wir tun können, um Lebensqualität, soziale Teilhabe und Selbständigkeit hochbetagter Menschen zu fördern", sagte Kruse  vor zwei Jahren in einem Interview. Menschen im hohen Alter hätten ein eindrucksvolles Wissen an Erfahrungen, auch was die praktischen Fragen des Lebens betreffen. "Es wäre  grossartig, wenn sie diesen Reichtum an Erfahrungswissen an jüngere Menschen weitergeben könnten. Denn die körperlichen Schwächen des hohen Alters paaren sich oft mit einer starken geistig-seelischen Sensibilität, mit einem Tiefgang in existenziellen Lebensfragen."

Musik bewegt uns

Musik kann eine Möglichkeit sein, um den Weg zu sich selber zu finden. Das konnten die über 100 Teilnehmenden der ersten Schweizer Musikgeragogik-Tagung erfahren, zu der gleichentags die Hochschule Luzern - Musik in den Südpol eingeladen hatte. Neben den beiden Pionieren der Musikgeragogik, Theo Hartogh (Universität Vechta) und Hans Hermann Wickel (Fachhochschule Münster), sowie der Demenzexpertin Irene Bopp-Kistler (Leitende Ärztin Memory-Klinik im Waidspital Zürich) unterstrich Andreas Kruse aus gerontologischer Sicht die Bedeutsamkeit der Musik für die Lebensphase des hohen Alters. "Musik bewegt uns", sagte Kruse, "sie hat eine tröstende, sinnstiftende und oft auch spirituelle Dimension." Musik könne helfen, zu den eigenen Kräften zufinden, "in der Mitte seines Selbst anzukommen". Wer im Alter ein Instrument spiele, singe, tanze oder einfach aktiv zuhöre, könne  emotional, motorisch und kognitiv profitieren. "Jedenfalls hat Musik eine fördernde und heilende Funktion", sagte Kruse.

Die Musikgeragogik, in der Schweiz eine leider noch weitgehend unterschätzte Disziplin, will durch das Initiieren von musikalischen Bildungsangeboten den Alltag der älteren und alten Menschen bereichern, deren Lebensqualität nachhaltig fördern, erhalten oder steigern. Das Instrumentarium ist breit gefächert: Ob auf hohem instrumentalen Niveau oder mit einfachen musikalischen Mitteln; musiziert werden kann mit der Stimme, gewöhnlichen Instrumenten oder einfachem Instrumentarium. Seit zwei Jahren bietet die Hochschule Luzern - Musik das Weiterbildungsprogramm CAS Musikgeragogik an. Ein nächster Lehrgang folgt im Frühjahr 2019, weitere Informationen: www.hslu.ch/m-weiterbildung. - 12.4.2018

Die nächste Etappe der Lebensreise "Das hohe Alter" findet am 2. Mai 2018, um 18.30 Uhr, im MaiHof zum Thema "Eigene Vorsorge und gesetzliche  Vertretungsrecht" statt, mit Angela Marfurt, Präsidentin der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde der Stadt Luzern, und Peter Vogel von der Pro Senectute Luzern. Weitere Informationen

* Andreas Kruse: Lebensphase hohes Alter: Verletzlichkeit und Reife. 495 Seiten, Springer Verlag, 2017.