“Die Alten denken nicht nur egoistisch an ihren eigenen Vorteil”

Seit dem letzten Herbst erkunden Männer und Frauen der Generation 60plus, was ein altersgerechtes Quartier ausmachen könnte. Die Pilotprojekte finden in den Quartieren Littau, Tribschen-Langensand und Wesemlin statt. Simone Gretler Heusser und Alex Willener von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit begleiten das Projekt.   

 Das Projekt „Altersgerechtes Quartier“ setzt auf die Partizipation der älteren Generation: Haben sich die 60plus ansprechen lassen?
Simone Gretler Heusser: Ja, das ist in allen drei Pilotquartieren gut gelungen. Wertvoll war die sorgfältige Bildung der so genannten Spurgruppen in jedem Quartier, in welchen gut vernetzte Personen aktiv waren. Mit diesen Leuten zusammen haben wir die eigentlichen Projekte in den jeweiligen Quartieren entwickelt.

Wie war denn die Beteiligung?
Gretler Heusser: Die Beteiligung an den Pilotprojekten war sehr erfreulich. So haben sich fast zwanzig Personen dafür gewinnen lassen, in Zweierteams Interviews durchzuführen, und bei den Quartierbegehungen durften wir – trotz dem bekanntlich nicht gerade schönen Maiwetter – jedes Mal eine Gruppe von über zwanzig Personen begrüssen. Eine Begehung musste sogar in drei Gruppen aufgeteilt werden.

Partizipation war bislang vor allem ein Begriff in der Kinder- und Jugendarbeit. Verläuft Partizipation bei älteren Frauen und Männer anders?
Gretler Heusser: Bei partizipativen Prozessen geht es ja immer darum, „Betroffene“ zu „Beteiligten“ zu machen. Unterschiede gibt es bei den Methoden und ihrer Umsetzung. Eine Quartierspionage mit Kindern findet zum Beispiel eher in der Schulzeit statt, die Kinder müssen von Erwachsenen begleitet sein etc. Bei einer Quartierbegehung mit älteren Erwachsenen spielen die Geschichten aus dem Quartier eine eminent grosse Rolle. Wir haben uns auch gefragt, ob dreistündige Spaziergänge über Stock und Stein zumutbar seien – und haben gestaunt. Eine 83jährige Frau war bei allen drei durchgeführten Quartierbegehungen dabei!

Denken die älteren Personen vor allem an die eigenen Interessen? Oder gibt es auch den aufmerksamen Blick für die anderen Generationen?
Gretler Heusser: Die Idee, dass die Alten egoistisch nur an ihren eigenen Vorteil denken, ist in meiner Erfahrung ein Vorurteil. Jedenfalls habe ich es in der Praxis noch nie erlebt, dass die Interessen von Jung und Alt gegeneinander ausgespielt worden wären. Im Gegenteil: Es war in allen Projekten ein grosses Anliegen, das ganze Quartier mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern im Blick zu haben.
Eine andere Frage ist die der Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse, Anliegen und Probleme innerhalb der alten Generation selber. Es ist uns bewusst, dass wir in den Pilotprojekten nicht alle alten Menschen in den jeweiligen Quartieren haben erreichen können. So gibt es auch in Luzern Menschen, die ihre Wohnung kaum mehr verlassen (können) und teilweise vereinsamt sind. Oder Migrantinnen und Migranten, die vielleicht erst im hohen Alter zu ihren Kindern in die Schweiz gekommen sind und völlig aus ihrem sozialen Netz gerissen worden sind.

Was macht denn ein „Altersgerechtes Quartier“ aus?
Gretler Heusser: Ein altersgerechtes Quartier ist ein Quartier, in dem Bewohnerinnen und Bewohner aller Altersgruppe sich wohl fühlen und in welches zu einer guten Lebensqualität beiträgt. Es geht darum, dass möglichst viele Lebens- und Versorgungsfunktionen im Quartier ohne Hindernisse zugänglich sind. Manche Dinge wie Handläufe bei Treppen oder Rollstuhlgängigkeit kommen sowohl alten wie auch ganz jungen Menschen resp. Kinderwagen entgegen. In anderen Bereichen sieht es vielleicht anders aus. So ist eine Jugendliche mobiler als ein gehbehinderter alter Mann, der seine Alltagseinkäufe in der Nähe erledigen können sollte.

Alex Willener, du hast vor allem das Pilotprojekt Wesemlin nah begleitet. Was sind für dich die wesentlichen Erkenntnisse?
Alex Willener: Es ist ohne grossen Aufwand gelungen, eine sehr aktive Gruppe von engagierten Freiwilligen zusammenzubringen, welche die Ziele und Massnahmen erarbeiteten. Inhaltlich haben sich als grösste Anliegen die Schaffung von altersgerechten beziehungsweise generationendurchmischten Wohnmöglichkeiten sowie die Förderung von zusätzlichen Begegnungsmöglichkeiten erwiesen. Bezüglich der Wohnmöglichkeiten hat die Gruppe einige Möglichkeiten des Um- oder Neubaus im Quartier recherchiert. Dieses Ergebnis hätte ich eigentlich beim „fertig gebauten“ Quartier Wesemlin nicht erwartet.

Simone Gretler Heusser, du warst vor allem an den Pilotprojekten Littau und Tribschen-Langensand beteiligt. Was sind deine wichtigen Erkenntnisse?
Gretler-Heusser: In erster Linie haben mich das Engagement der Leute in den Spurgruppen und dann auch das Interesse und die Beteiligung der Menschen aus dem Quartier sehr gefreut. Dann hat mir auch sehr gefallen, wie in beiden Quartieren das eigentliche Projekt respektive die Methode und ihre Umsetzung in einem Prozess entwickelt worden ist, in welchem alle Beteiligten ihre Anliegen einbringen konnten. Sowohl die Leiterinnen und Leitern der Begehungen als auch die Interviewerinnen und Interviewern in der Quartierforschung haben mich mit ihren Leistungen und ihrem Wissen sehr beeindruckt.

Arbeitsgruppen, Quartierforschung, Quartierbegehungen – wie haben sich die drei unterschiedlichen Methoden bewährt?Gretler Heusser: Quartierforschung und Quartierbegehungen würde ich eher als Aktivierungsmethoden bezeichnen, welche es ermöglichen zu sagen, Achtung, hier läuft etwas. Die Weiterarbeit mit der Ausarbeitung von konkreten Vorschlägen und Forderungen wird auch hier in Arbeitsgruppen erfolgen.
Willener: Die direkte Einberufung von Arbeitsgruppen funktioniert auch, hat aber vielleicht nicht den gleichen Mobilisierungseffekt.

Wie werden die Erkenntnisse und Beobachtungen nun ausgewertet?
Willener: Aus allen Quartieren haben wir nun zahlreiches Material, Gesprächs- und Beobachtungsnotizen, Fotos etc. Als nächstes wird es nun darum gehen, aus diesem Material die Massnahmen für jedes Quartier abzuleiten. Dabei geht es vorerst einerseits um kurz- und mittelfristige, eher kleinere Massnahmen, später dann auch um umfangreichere Vorhaben. Andererseits ist vorgesehen, eine Art Kriterienliste zu erstellen, welche auch auf andere Quartiere übertragen werden kann.

Bleiben  die „Aktivisten“ aus den einzelnen Quartieren dabei? Gretler Heusser: Wir hoffen, dass die bisher Engagierten auch bei der weiteren Arbeit dabei bleiben und in einer Arbeitsgruppe ein Thema, das ihnen besonders am Herzen liegt, weiter verfolgen. Im September werden wir in den Quartieren über die Pilotprojekte berichten, dann besteht auch für neue Interessierte die Möglichkeit, sich noch einzuklinken.

Wie sich zeigt, ist es nicht einfach, Personen mit Migrationshintergrund oder wenig Erfahrungen mit dem Freiwilligenengagement zu gewinnen. Wie könnte man dies allenfalls ändern?
Gretler Heusser: Es ist eine Illusion zu glauben, man könne mit einem Projekt alle erreichen. Im Bereich Freiwilligenengagement zeigt sich, dass sowieso viele Veränderungen im Gang sind, so engagiert man sich heute eher zeitlich begrenzt für ein konkretes Projekte als „lebenslänglich“ in einem Verein. Auch bei den Personen mit Migrationshintergrund ist ein differenzierter Blick vonnöten. Erstens engagieren sich sehr viele von ihnen für die eigene Community, sei es durch Hilfeleistungen, Übersetzungen oder auch in Vereinen – da geht es dann darum gehen, auch diese Formen des Engagements sichtbar zu machen.
Zweitens wirken sich hier auch die Unterlassungen unserer Integrationspolitik aus. Wie soll jemand, der nie um seine Meinung gefragt worden ist, der nie das Gefühl hatte, willkommen oder für die schweizerische Gesellschaft interessant zu sein, nun plötzlich auf die Idee kommen, sich zu engagieren? Denn Engagement bedeutet auch Exposition und Artikulation. Hier sind behutsame Vorgehensweisen gefragt, indem etwa über einen Seniorenmittagstisch oder in einem Altersheim der Kontakt gesucht wird. Dabei spielen dann wieder unsere gut vernetzten und verankerten Bezugspersonen in den Quartieren eine wichtige Rolle.

Die Fragen stellte Beat Bühlmann – 17. Juni 2013