Brief an die Enkelin

Ausgelagert

Von Rolf Käppeli

Wenn du bei uns übernachtest, Louisa, werde ich ins Büro ausgelagert. Opa muss das grosselterliche Schlafzimmer räumen. Kissen und Decke, die Utensilien neben dem Bett wandern mit – Louisa übernimmt meinen Matratzenteil im Doppelbett.
Nicht dass es über das räumlich veränderte Nachtlager zu familiären
Streitigkeiten käme. Für dich und Grossmama, die dominierende Frauenallianz in unserem Trio, war immer klar, wer wo schläft, grossväterlicher Widerspruch erübrigt sich. Die nächtliche Separation wurzelt stillschweigend und Generationen übergreifend in weiblich archaischer Solidarität.
Für Louisa räume ich meinen Bettplatz ohne viel Pipapo. Sollen die Frauen doch gemeinsam alleine nächtigen. Der grossväterliche Schutz vor Gespenstern und Kobolden, das vertraute Schniefen und süsse Schnarchen aus brummiger Kehle, das jeden unerwünschten Zudringling vom Schlafgemach fernhält, wenn sie auf all die männlichen Nachtqualitäten verzichten wollen, seis drum, das liegt in eurer eigenen fraulichen Verantwortung. Du, Louisa, hast mir auch schon mal deutlich gemacht, wo „wir Frauen“ und „die Männer“ am Tisch zu sitzen haben. Dein leicht feministischer Hang zu klaren Verhältnissen hat sich in der Familie herumgesprochen.

Zu enttäuschten Gefühlseruptionen lasse ich mich deswegen nicht hinreissen. Wird nächtens die Enkelin in meinem Bett heftig weinen, geplagt von schrecklichen Träumen, oder wird Grossmama morgens um vier schlaftrunken Louisas Windeln wechseln, weil die Gerüche im Schlafzimmer sich radikal in die falsche Richtung entwickelt haben, dann werde ich in meinem Büro an frischer Luft ruhig und tief schlafen, während einer Schlaflücke ungestört in einem spannenden Buch über Grossväter blättern, worin ich bestimmt etwas Lesenswertes über grossmütterliche Kumpeleien im Umgang mit Enkelinnen finden werde.
Verzeih, liebe Louisa, wenn ich hier zu einem Zwischenruf aushole, nimm es nicht persönlich, aber es muss einmal laut und deutlich gesagt werden: Von kindlicher Zuwendung ausgeschlossene Väter und Grossväter der Welt, vereinigt euch! Männergruppen und Männerbüros, die ihr seit Jahrzehnten an das fatale Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom männlicher Existenzen (ADSymE) erinnert, haltet durch! Ihr Hollsteins und Guggenbühls, die ihr seit Jahrzehnten mit euren Schriften unermüdlich gegen die pädagogisch-feministische Zeitbombe aus dem 20. Jahrhundert anrennt, gebt nicht auf!
Gleichberechtigung hat das Männer fördernde Rufen in der Wüste zwar noch nicht gebracht. Das pränatale Nestgefühl, Louisa, das du im Mutterbauch genossest, bleibt matchentscheidend. Und Mutterbrust bleibt Mutterbrust, Frau bleibt Frau, Mann schaut zu.
Es ist nicht immer lustig, im Wettbewerb um die Gunst kindlicher Zuneigung die Nummer Zwei zu sein. Schon gar nicht, wenn eine weibliche Allianz das männliche Bemühen um die Grossvater-Akzeptanz wirksam unterläuft. Um so idyllischer ist der Sonderfall. Wenn Opa erleichtert und erstaunt erlebt, dass dasselbe Rühr-mich-nicht-an-Kind ihn bezirzt mit den wunderbarsten Schmeicheleien und Zärtlichkeiten, sobald das kleine Monster allein auf dich Mann angewiesen ist, der du für Momente von der grossmütterlichen und anderer Konkurrenz befreit bist. Dann flüstert’s und streichelts, schäkerts und flirtets. Dann raunst du Opa Geheimnisse ins Ohr, Louisa, zeichnest mit den Fingern verschworene Signale in die Luft, legst vertrauensvoll deine Hand auf mein Bein.
Du lädst mich ein, mit dir im Kinderzimmer unter dem Hochbett in die Intimität deines Tücherzelts zu steigen und schaust grosszügig über Grossvaters verschwundene körperliche Eleganz hinweg. Deine Augen leuchten, lustig schüttelst du das Haar, das Gesicht strahlt wie ein Morgenstern. Zwar erkenne ich im Flüsterakt weder Wörter noch Satzbau, errate kaum die Bedeutung deiner luftigen Gesten – ich bin einfach überwältigt. Ein mystischer Augenblick.
Gut, wir wollen nicht übertreiben, vielleicht handelt es sich hier um den günstigeren Fall in der Entwicklungs-Abteilung „Wie manage ich meinen Grossvater?“. - Egal. Carpe diem.
5. November 2016

Zur Person: Rolf Käppeli, aufgewachsen in Luzern, Studium der Germanistik, Pädagogik und Geschichte in Zürich. Lehrer auf allen Schulstufen. 1974 Einstieg in den Journalismus (LNN, TA). Ab 1983 Schulleiter an der DMS Zug. Ab 1995 selbstständige Arbeit als Schulberater, Schulentwickler und Schulevaluator. Lebt seit 1987 mit seiner Lebenspartnerin zusammen in Uetikon, Miterzieher von zwei Buben, die inzwischen selber Kinder haben.