Das Innenleben im Visier

Von Meinrad Buholzer

In Steven Spielbergs „Minority Report" von 2002 werden Verbrecher erkannt, bevor sie eine Tat begangen haben, und vorsorglich verwahrt. Wieder mal war uns Hollywood voraus, denn wir stehen mitten in einem Paradigmenwechsel der Strafverfolgung. Dass Gedanken keineswegs harmlos sind, weiss der Gläubige, wenn er bekennt, gesündigt zu haben „in Gedanken, Worten und Werken". Die weltliche Strafverfolgung aber musste sich bis jetzt auf Worte und Werke beschränken – die Gedanken blieben ihrem Zugriff jedoch verschlossen.

Jetzt nehmen die Staaten unser Innenleben ins Visier. Musste bisher eine strafbare Tat begangen worden sein, so wird diese Grenze schleichend gelockert. Exemplarisch in einem bayrischen Gesetzesentwurf zur „effizienten Überwachung gefährlicher Personen": Die Sanktionen bleiben nicht auf die Abwehr konkreter, gegenwärtiger Gefahren beschränkt, sondern gelten bereits bei Hinweisen, dass einmal „eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entsteht". In die gleiche Richtung, wenn auch nicht so explizit, weist bei uns das neue Nachrichtendienstgesetz, das die präventive Überwachung und Informationsbeschaffung ausweitet.

Auslöser der Wende ist die Angst, teils begründet, teils geschürt. Schon in den 1980-er Jahren hatte der Soziologe Niklas Luhmann von einer „grossen politischen und moralischen Zukunft" der Angst gesprochen. Die Behauptung der Angst könne nicht widerlegt werden und widerstehe jeder Kritik der reinen Vernunft. Seit 9/11 und den anhaltenden Terroranschlägen hat die Politik eine handfeste Grundlage für die „Ausweitung der Angstzonen" und den Rückzug der Rechtsgarantien, so der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl. In präventiver Optik würden Unterscheidungen von Schuld und Unschuld sowie Vorsatz, Zurechnung und Verantwortlichkeit durch eine Skala des Gefährlichen ersetzt und ein Unschärfebereich erzeugt. Dabei leisten die Medien Handlangerdienste, wenn sie nach jedem Anschlag – neben der refrainartigen Forderung nach Köpferollen bei den Verantwortlichen – lauthals über Versäumnisse mutmassen und was man alles hätte tun müssen, um ihn zu vermeiden; meistens noch bevor die Hintergründe geklärt sind.

Kommt dazu, dass die Wissenschaft, namentlich Neurologie und Psychologie, die unser Verhalten untersucht, mit zunehmendem Erfolg die Schutzschichten durchdringt, mit denen wir unser Innerstes bisher verborgen gehalten haben. Verbunden mit einer zunehmenden Überwachung des öffentlichen Raumes und unserem hemmungslosen Mitteilungsbedürfnis in den Social Media eröffnen sich der Ahndung potenziell gefährlicher Subjekten ganze neue Horizonte.

Dabei hat der Staat gute Argumente, denn letztlich gehört die Sicherheit der Bürger zu seinen dringlichsten Aufgaben. Hannah Arendt allerdings hat auf den für die Demokratie bedrohlichen Zusammenhang hingewiesen, den Angst und Tyrannei in der Politik eingehen. Dabei geht es in unseren Breitegraden nicht darum, dass ein Bösewicht die Macht übernimmt und uns tyrannisiert. Vielmehr besteht die Gefahr, dass sich „Ohnmachtserfahrung und Herrschaftsbegehren verbünden" (Vogl) und das politische Handeln untergraben. Anders gesagt: Um unserer tatsächlich oder scheinbar gefährdeten Sicherheit willen sind wir bereit, unsere Freiheit oder einen wesentlichen Teil davon zu opfern. Es ist nicht so, dass man uns diese zunehmenden Einschränkungen mit Gewalt aufzwingt, unsere Angst und unser Sicherheitsbedürfnis sind damit einverstanden, verlangen sogar danach. Der hohe Preis, den wir dafür bezahlen: dass unsere Gedanken nicht mehr ganz so frei sind...

Zur Person:
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.