Der Vater, der Lehrer, der Pfarrer – sie hatten immer recht!

Von Judith Stamm

So erzählen es meine Vorfahren. In ihrer Jugend hätten Autoritätspersonen immer recht gehabt, oder wenigstens recht bekommen. Und heute?

Kein Kind habe sich zuhause über eine ungerechte Behandlung durch den Lehrer beklagen können. „Eine Ohrfeige hast Du bekommen?“ „Die hast Du sicher verdient!“ habe es geheissen. Das im besten Fall. Im schlechteren habe man zuhause gerade nochmals eine eingefangen. Gleichsam zum Nachdoppeln und Verstärken des „pädagogischen“ Effekts! Solche Geschichten hörte ich immer wieder. Man wusste offenbar damals noch, „wo Gott hocket“, wie es so trefflich heisst, was man zu tun hatte, was sich gehörte!

Das ist heute längst nicht mehr so. Ich überspringe aber das Zeitalter, das zur heutigen Situation geführt hat. Die Bücher darüber sind geschrieben! Autoritäten gelten heute nicht mehr viel. Institutionen und ihre Repräsentanten, besonders im politischen Bereich, werden in der Öffentlichkeit verspottet. Der Bundespräsident wird ausgepfiffen, Engagement in einem Parlament ist Zeit- und Geldverschwendung, Richter sollen abgewählt werden, wenn sie unabhängig urteilen, und Professoren sind sowieso überflüssig. Das ist die Litanei, die heute vorgetragen wird. Nicht nur aufmüpfige Jugendliche demontieren die Autoritäten. Auch die Erwachsenen machen am Stammtisch genüsslich mit.

Und jetzt? Keine Gesellschaft ohne Autoritäten kann auf die Länge dem Chaos und der Anarchie entkommen. Das aber wird nicht das Schicksal der Schweiz sein. Bei uns wird den Menschen seit Jahren eine neue „Autorität“ vorgestellt, vorgeführt, schmackhaft gemacht. Die neue Autorität ist „das Volk“. Und das Instrument, mit der es seine Macht ausübt, ist die Volksinitiative.

Man verstehe mich recht. Ich habe grossen Respekt vor der Volksinitiative. Ich habe noch gelernt, dass sie der Stimmbürgerschaft ermögliche, ihre Bedürfnisse im Parlament direkt anhängig zu machen. Ihr Inhalt gebe die Stossrichtung eines Anliegens an, dürfe auch übertrieben formuliert sein. Es sei dann Aufgabe von Bundesrat und Parlament, das Anliegen aufzunehmen, und allein, mit einem Gegenentwurf oder einem Gesetzestext zusammen, dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten. Diese entsprechenden Vorschläge sollen aber nicht nur im Interesse der 100`000 Unterschreibenden sein (so viele braucht es für eine Initiative). Das Ergebnis gilt ja dann für die gesamte Bevölkerung. Und weil in unserem Parlament viele Richtungen vertreten sind, gibt es jeweils ein intensives Verhandeln, ein Geben und Nehmen, bis  entsprechende Empfehlungen zur Initiative und begleitende Erlasse verabschiedet werden können. Im Hinblick auf die Interessen unserer gesamten, so verschiedenartigen Bevölkerung, finde ich das eine sehr gute Mechanik.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Die lautesten Vorwärtstreiber von Volksinitiativen kümmern sich in letzter Zeit wenig darum, ob ein neues Anliegen zu unseren Traditionen, „bewährten Rechtgrundsätzen“ (so hiess das früher) oder internationalen Verträgen, die wir abgeschlossen haben, passt. Und wenn dann eine solche Initiative von einer knappen Mehrheit derjenigen, die zur Urne gehen, angenommen worden ist, hat „das Volk“ gesprochen. Dabei gibt es „das Volk“ als konstante Grösse gar nicht. Es besteht immer aus der Mehrheit jener Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern, die überhaupt an einer Abstimmung teilnehmen. Und weil die Stimmbeteiligung meistens unter 50% liegt, ist es immer eine Minderheit, die festlegt, was alle zu tun haben. Und diese Minderheit, „das Volk“, ist  je nach Themenbereich, auch immer wieder anders zusammengesetzt. So etabliert sich in unserem Lande eine neue Autorität „das Volk“ und eine neue Devise: „das Volk hat immer recht“! Wer will da schon nicht dazu gehören?! Zuhören, Abwägen, gegenteilige Meinungen respektieren, kommen langsam aus der Mode.

Aber Vögte hatten wir doch schon einmal in unserer Geschichte, auch gnädige Herren. Wir haben sie abgeschafft! Deshalb ist für uns jetzt auch der „Volkswille“ keine alleinseligmachende Instanz, kein goldenes Kalb, um das wir tanzen sollen. Der „Volkswille“ ist eine anonyme, elementare Kraft. Nur in den Gefässen unserer Rechtsordnung entwickelt er die Dynamik, die unsere Gesellschaft vorwärtsbringt. Der „Volkswille“, der ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden soll, wirkt wegen seiner Anonymität beängstigend. Für alle jene, die in Gefahr sind, unter die Räder zu geraten.

Sollen denn wirklich „die Väter, die Lehrer, die Pfarrer, die immer recht hatten“, wieder auferstehen?

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.