Was kann uns das Luzerner Löwendenkmal im Jahr 2017 erzählen?

Von Jürg Stadelmann

Bestimmt haben Sie vom neusten Rekordtransfer im europäischen Fussballerhandel gehört: Paris St. Germain kaufte vom FC Barcelona für 220 Millionen Euro einen Brasilianer, und der spielt nun dort für einen Millionensold. Im 17. und 18. Jahrhundert waren in Frankreich und anderen ambitionierten Fürstenhöfen in Europa nicht Kicker begehrt, sondern kräftige, gut und hochgewachsene Kriegssöldner, insbesondere "Schweizer". Auch für sie - ab 1.84 Meter Grösse, wehrtauglich und mit gutem Leumund - wurden hohe Summen ausgegeben. Aus solchen Langen Kerls, wie der Vater von Friedrich II., der Soldatenkönig sie genannt hatte, setzte sich auch die Leibgarde in Versailles von Louis XII. bis Louis XVI. zusammen. Seit dem Spätmittelalter pflegten alle diese Schweizergarden ihren auf dem ganzen Kontinent berühmtberüchtigten Ruf als unerschrockene, willige und kampftüchtige Kämpfer, die keine Gefangenen machen!

Haudegen und Humanität

Ist es nicht spannend, dass in Luzern das Löwendenkmal seit 1821 trauernd an dieses alteidgenössische, gnadenlose Haudegenimage erinnert, und einige hundert Meter davon weg das Bourbaki-Panorma an den ersten Grosseinsatz des Schweizerischen Roten Kreuzes im deutsch-französischen Krieg von 1870/71? Dort wird betont, dass schweizerisch ist, sich der Verletzten und Versehrten anzunehmen!

Für Historikerinnen und Geschichtsinteressierte ist das Löwendenkmal ein vielschichtiger Erinnerungsort: Der eingezäunte englische Gartenpark mit Kapelle, Teich und dem Löwenmonument samt Inschrift im ehemaligen Steinbruch verlangt eigentlich danach, viele Fragen zu beantworten. Allerdings ist die tägliche Realität eine andere: Ungefähr 1,2 Millionen Besucherinnen und Besucher pro Jahr wollen den Ort betreten haben und sich fotografisch verewigen, um das Da-Gewesen-Sein wem auch immer testieren zu können. Ob da überhaupt und welches Interesse an der Geschichte des Monuments vorhanden ist, lassen wir einmal unbeantwortet.

"Warum der Löwe? Denk mal - wir erzählen"  ist der Projekttitel einer Initiative von jungen Historikerinnen und engagierten Geschichtsinteressierten, die dem etwas entgegenhalten will. Diese bunt zusammengestellte Crew hat unter meiner Leitung mit einem Grafikerbüro aus Luzern in acht Monaten die seit dem 10. August angebotenen "inszenierten Führungen" konzipiert und ausgearbeitet. Der geführte Rundgang beginnt beim blauen Container neben der Bushaltestelle Löwenplatz. Beim Start innerhalb des Bourbakigebäudes fragen wir nach Luzerner Patrizierfamilien, deren Herrenhäuser noch heute in der Stadt an die erfolgreichen Kriegsunternehmen erinnern. Unsere fast 700 Kilometer lange Fussreise als frisch rekrutierte Gardisten wird uns von Luzern nach Versailles bringen. Nach dieser, sich selbst feiernden, vom Alltag völlig abgehobenen königlichen Lebenswelt marschieren wir ins revolutionäre Paris, das wir in einem alten Bunker kennen, hören und sehen lernen.

Das Gemetzel von 1792

Aus dem Berg ausgespuckt, befinden wir uns im Löwendenkmalpark. Dort erwartet uns eine monumentale Dioramainstallation, die auf Holzplatten gedruckte Ausschnitte des Historienbildes "Tuileriensturm von Lorch und Bang von 1889" zeigt. Bis Ende September visualisieren sie nun dort öffentlich zugänglich, wie spektakulär man sich rund 100 Jahre nach dem 10. August 1792 im touristischen Luzern zur Zeit der Belle Époque das Massaker an den Schweizergardisten vorgestellt hat.

Unsere multimedial unterstützte Geschichtserzählung soll in die Grundfrage münden, wie das Gemetzel von Sommer 1792, 225 Jahre danach, anzusehen ist? Steht das Löwendenkmal für die gewalttätige Beseitigung der Alten Ordnung, der Auflösung der 13-örtigen Eidgenossenschaft und dem Abbruch des für Luzern so lukrativen Söldnerhandels mit Frankreich?

Oder müssen sich heutige Besuchende aus der Schweiz nicht vielmehr am seit 1798 Errungenen und Entwickelten, an der ersten republikanischen Staatsform, der Idee der Nation, am ersten gewaltengeteilten Verfassungsstaat der Helvetik und an den sich seither beharrlich ausgeweiteten Menschen- und Bürgerrechten orientieren? Kann der blutige Anlass fürs Löwendenkmal nicht als Anfangswehe der langen Geburt der heutigen Schweiz gesehen werden? Weil erst nach 50 Jahren kontroversester Auseinandersetzungen 1848 mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft ein repräsentativer Bundesstaat begann? Oder erst mit 1891 als neben dem Referendum auch das Initiativrecht eingeführt wurde und nach rund 100 Jahren die heutige halbdirekte Männerdemokratie entstanden ist? Oder gar erst nach 200 Jahren, als 1990 endlich alle Schweizerinnen als mündige Bürgerinnen wählen und abstimmen durften?

Das Löwendenkmal kann uns so an die epochale Zäsur zwischen 1792 und 1798 erinnern. Es kann aber auch als alteidgenössisches ebenso wie als schweizerisches Migrationsmahnmal gesehen werden: Waren es vor diesem Epochenbruch Luzerner Acher-, Peter-, Port- und Stadelmanns, die als junge Krieger ihr Glück in Fremden Diensten suchten, tun es heute Schweizer Fussballsöldner wie Benaglio, Djourou, Rodriguez, Berami, Xhaka, Inler, Dzemalli, Drmic, Lustenberger, Seferovic, Mehmedi, Shaqiri usw.

Informationen zum Projekt finden sich auf www.1792-Luzern.ch

Führungen auf Deutsch werden Montag bis Freitag, jeweils um 10 und 18 Uhr, samstags um 10, 16 und 18 Uhr sowie sonntags um 10, 14 und 16 Uhr oder auf Anfrage angeboten. Weitere Führungen werden ab nächster Woche an drei Daten auf Französisch und an zwei auf Englisch angeboten. Termine für Italienisch können angefragt werden. Am einfachsten läuft die Anmeldung über unsere Website. Immer jeweils eine halbe Stunde vor den festgelegten Führungen ist während einer Stunde unsere mit 1792/2017 markierte Kasse neben der Reception des Bourbaki-Panoramas offen.

Freiwillige Helfer gesucht!

Das Projektkernteam 1792/2017 sucht ab sofort bis zum 1. Oktober für temporäre Einsätze im Raum Löwenplatz zwei bis vier eigenständige, bewegliche und jung gebliebene Freiwillige, die mit Optimismus, Erfahrung und Verständnis auf Unvorhergesehenes reagieren, auf französische und/oder englische Fragen antworten, sowie unseren Betrieb mitdenkend begleiten können. Wer Lust und Zeit hat, soll sich bitte bei Projektleiter Jürg Stadelmann melden:  j.stadelmann@tic.ch

Fotogalerie

Zur Person
Jürg Stadelmann (1958) ist Historiker und Gymnasiallehrer. Er unterrichtet an der Kantonsschule Alpenquai sowie an der Maturitätsschule für Erwachsene  in Luzern. Jürg Stadelmann ist Inhaber des Büros für Geschichte, Kultur und Zeitgeschehen GmbH www.geschichte-luzern.ch und  Leiter der Herausgeber des "Stadtführers Luzern entdecken".