Überforderte Urteilskraft

Von Meinrad Buholzer

In der Berliner Charité sind im Mai – 15 Wochen zu früh – Vierlinge per Kaiserschnitt zur Welt gebracht worden. Von einer 65-jährigen Frau, die bereits 13 Kinder hat. Nun hat sie 17. Sie hatte sich in der Ukraine durch Eizellen- und Samenspenden befruchten lassen und dann die Vierlinge ausgetragen.

Was mag sie dazu getrieben haben? Kinderliebe? Oder Liebe zu den Kindern? Da habe ich meine Zweifel, wenn ich an die vier Kleinen denke. Der Ehrgeiz, im Guinness-Buch der Rekorde verewigt zu werden (das nach meiner Meinung schon manchen Blödsinn veranlasst hat)? Oder doch eher der lukrative Exklusivvertrag zur medialen Vermarktung mit RTL? Der uns wieder mal vor Augen führt, wie wahnsinnig bereichernd die Reality-TV-Szene ist.

Nach meiner – zugegeben nicht repräsentativen – Einschätzung hielt sich die Aufregung über diesen Fall in Grenzen. Wahrscheinlich haben wir uns schon daran gewöhnt, dass, was möglich ist, auch gemacht wird. Stets findet sich jemand, der alles mit sich machen lässt – vor allem wenn mediale Aufmerksamkeit und Geld in Aussicht stehen.

Das war anders, als die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff vor gut einem Jahr Kinder, die mittels künstlicher Befruchtung entstanden sind, „Halbwesen“ nannte. Da ging ein shitstorm sondergleichen über sie nieder. Zugegeben, der Begriff ist deplatziert und Lewitscharoff hat ihn umgehend zurückgenommen und sich davon distanziert. Ihr Vortrag sei in einigen Passagen zu polemisch geraten, meinte sie. Geblieben aber ist ihre Kritik am „gegenwärtigen Fortpflanzungsgemurkse“ und, beispielsweise, an der Bestellung von Spermien nach deren genetischen Qualitäten aus dem Katalog.

Was mir bei diesen Fällen auffällt: Eine Diskrepanz in unserem Verhalten. Wir wollen, und die Meinungsumfragen scheinen das zu bestätigen, immer mehr Natur pur. Die Tiere sollen so natürlich wie (in einer menschengeprägten Welt überhaupt) möglich aufwachsen. Wir verlangen Auslauf für Hühner und Schweine, Mutterkuh-Haltung usw. Okay, die Vermehrung der Rinder durch den „Köfferlimuni“ haben wir, so wir davon wissen, akzeptiert. Aber was auf den Tisch kommt, soll bitte schön möglichst natürlich und frei von allen chemischen Hilfsmitteln und gentechnischen Manipulationen sein. Es gibt inzwischen Apps, die wir beim Einkauf und im Restaurant konsultieren können, um uns zu vergewissern, dass wir korrekt und gesund und natürlich und tierfreundlich und umweltbewusst und ressourcenschonend essen. (Ein amerikanischer Satiriker schlug kürzlich vor, den Tierhaltern auch das Erzählen von rassistischen oder sexistischen Witzen in Anwesenheit der Tiere zu verbieten.)

Wenn’s aber um den Kinderwunsch geht, dann fällt diese kategorische Forderung nach Natur pur schnell unter den Tisch. Dann kann’s, habe ich den Eindruck, nicht genug Labor und Technik sein, dann sind alle künstlichen Hilfsmittel plötzlich gefordert und erlaubt und akzeptiert und sanktioniert. Koste es was es wolle. Der Kinderwunsch hat schon fast den Status eines Menschenrechts.

Kein Zweifel, was noch vor wenigen Jahrzehnten unverrückbar schien und die Grenzen des dem Menschen Möglichen markierte, ist hinfällig geworden. Laufend wird unser Spielraum ausgeweitet, werden Hoffnungen geweckt, Ängste geschürt. Unsere flüchtige Gegenwart, schreibt der Geisteswissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, in der jeder Gegenstand der Wahrnehmung und der Erfahrung in den Status des Möglichen rücke, lasse sich als „Freiheitsgewinn feiern – oder als Überlastung der Urteilskraft fürchten“. Ich fürchte, wir haben wenig Grund zum Feiern.

(PS: Erstaunlich, dass in unserer etikettenverliebten Zeit mit den sich wunderbar vermehrenden Labels und der permanenten Suche nach „Alleinstellungsmerkmalen“ noch niemand auf die Idee eines Bio-Labels für Kinder gekommen ist: „Natürlich gezeugt nach herkömmlicher Methode“.)
18.Juni 2015

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.