Der liebe Gott und die digitale Welt

Von Judith Stamm

Vor einigen Tagen hörte ich am Morgenradio zufällig einen Song von Polo Hofer mit dem Titel: „Jesus het es Handy“. „Nanu, was ist denn das“, dachte ich. Und fing an zu recherchieren. Allerdings bewegte ich mich auf dünnem Eis. Denn in dieser Szene bin ich überhaupt nicht bewandert. Aber ich fand heraus, dass der Song am 8.1.2016 auf einem neuen Album von Polo Hofer: „Ändspurt“ erschienen ist. Dass der Song auch noch von anderen Künstlern interpretiert wird. Und dass er auf einem Youtube-Filmchen mit Bildern illustriert ist. Und hier faszinierte mich vor allem ein Bild. Ein holzgeschnitztes Jesuskind liegt in der Krippe mit einem Handy zur Seite! Das ist etwas gewöhnungsbedürftig, ich gebe es zu. Aber sicher sehr zeitgemäss. Der Anfang des Songs, der mehrere Strophen umfasst, lautet übrigens:

 „Jesus het es Handy –
lüt ihm eifach a
Er isch scho am andere Ändi
Är isch immer für Di da
Jesus het es Smart Phone und
e schöne Klingelton
Halleh – Hallelujah“

Kürzlich hörte ich ein Referat über „Big Data“. Der Referent hämmerte uns ein, dass wir mit allem, was wir im Internet vornehmen, Spuren hinterlassen. Dass es mit der Privacy ein Ende habe und im grossen Universum von „Big Data“ alles über uns bekannt sei. „Aber“, dachte ich, „das weiss ich doch, seit ich ein Kind war.“ Nur wurde das damals anders benannt. Damals hiess es: „Der liebe Gott sieht alles“. Und wir Kinder wussten, dass wir noch so heimlich, noch so im Verborgenen, etwas anstellen konnten, der liebe Gott sah es einfach. Wenn ich mich richtig erinnere, begegneten wir dieser „Tatsache“ mit einem gewissen Gleichmut. Wir hatten ein grosses Urvertrauen in die Grosszügigkeit des lieben Gottes unseren Kinderstreichen gegenüber.

So unbeschwert können wir heute mit „Algorithmen“, „Big Data“ und „Big Brother“ nicht mehr umgehen. Die Möglichkeiten der Überwachung, Vernetzung der Daten und der Einflussnahme auf das Verhalten der Menschen entwickeln sich rasant. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Wir leben heute gleichzeitig in der analogen und der digitalen Welt. Meine Generation der „digital immigrants“ lebt in der interessantesten Phase. Täglich machen wir den Spagat zwischen der uns gemässen analogen Welt, etwa dem freundschaftlichen Klatsch im Kaffeehaus. Da sind die persönlichen Mitteilungen emotional gefärbt: mal ernst gemeint, mal provokativ, mal ironisch. Wir zählen darauf, dass unser Gegenüber an der Stimme, an der Mimik, an den Bewegungen ablesen kann, wie das Gesagte gemeint ist.

Und gleichzeitig verabreden wir uns über SMS, tauschen uns weltweit aus via Mails und recherchieren im Internet über alles, was uns gerade über den Weg läuft. Und da gäbe es noch viele andere Möglichkeiten wie chatten, gamen, sich in den Social Media in Szene setzen …

Wie wird es denen gehen, die als „digital natives“ aufwachsen? Immer mehr Zeit ihres Tages in der digitalen Welt verbringen, beruflich und privat? Da erinnere ich mich an die Anekdote über das kleine Mädchen, das mit seinen Eltern ein Aquarium besuchte. Staunend vor einem besonders schönen, bunten Fisch stand. Dann machte es eine Wischbewegung über die Scheibe des Wasserbehälters. Wie es sich vom Handy der Mutter gewohnt war, wenn sie ihm Bilder zeigte. Aber der Fisch verschwand nicht. Es kam auch kein nächster, der noch schöner gewesen wäre! Der Fisch war real, analog eben. Irgendwie war die Situation erklärungsbedürftig. Aber Kinder lernen ja schnell!

Wieder einmal steht der „mündige Mensch“ auf dem Prüfstand. In der „schönen neuen Welt“ muss er prüfen, auswählen, verzichten, vertiefen. „Big Data-Souveränität“ ist gefragt!

Und der liebe Gott? Mein kindliches Urvertrauen ist intakt. Um die Einzelheiten, die „Schnittstellen“, werden sich die Theologinnen und Theologen kümmern!

Zur Person
Judith Stamm,
geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 – 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 – 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 – 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 – 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.