Die Alten sind dabei

Von Beat Bühlmann

Das Büro im vierten Stock im Stadthaus ist geräumt. Die zwei Bilder von Urs Fischer, Inven.Nr. 88/23y, liegen wieder bei der städtischen Kunstsammlung, Schlüssel und Badge habe ich ordentlich zurückgegeben. Das Entwicklungskonzept „Altern in Luzern" wurde Ende Februar nach vier Jahren abgeschlossen, zurückgeblieben sind in der Sozialdirektion neun volle Ordner; kurz gefasste Aktennotizen zu Sitzungen, Workshops, Projekten. Doch es ging am allerwenigsten um Papier und Paragrafen.

Viel wichtiger waren Begegnungen, Diskussionen, neue Ideen - und die Umsetzung von konkreten Vorhaben: der Marktplatz in der Kornschütte, der Generationenpark im Hirtenhof, das Erzählcafé und das Spielplatzcafé in der Pfarrei St. Anton, der offene Bücherschrank und das Querbeet im Wesemlin, die Quartierforscher in Littau, die Lesementoren im Maihof und Rönnimoos. Es ist ein Glücksfall, wenn man sein Berufsleben mit einem solch weitgespannten Projekt abschliessen kann.

Neugier kennt kein Alter
Anfang März war ich wieder im Stadthaus. Jetzt ohne Badge und Schlüssel, Zugang nur noch über den Haupteingang. Ich bin seit ein paar Tagen pensioniert und arbeite nun als "Freiwilliger" beim OK Marktplatz mit. Der neue Flyer liegt bereits auf dem Tisch. "Durchstarten" heisst das diesjährige Motto. 31 Organisationen, von der Alzheimer-Vereinigung bis zu Zeitgut (Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften), machen mit. Neu dabei sind Spitex, Hirschpark, GrossmütterRevolution und die Swiss International Volunteer Organisation. Die Sitzung verläuft wie immer zügig. Logistik und Organisation sind inzwischen eingespielt, heftig zu reden gibt heute wieder die fehlenden Rampe, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Kornschütte auf anständige Weise zu ermöglichen. Nun zeichnet sich eine Lösung in Eigenregie ab: Wir kaufen selber eine "Wheelramp" in Deutschland, und Pro Infirmis Schweiz übernimmt die Kosten. Was mich immer wieder beeindruckt: die Kreativität, Professionalität, Beharrlichkeit und Zuverlässigkeit in dieser - und in anderen - Arbeitsgruppen. "Mit anderen etwas bewegen", das sei das Hauptmotiv für die Freiwilligenarbeit, heisst es im jüngsten Freiwilligen Monitor Schweiz.* So ist es.

Vor drei Jahren haben wir erstmals den Marktplatz 60plus durchgeführt. Seither findet diese Plattform für das zivilgesellschaftliche Engagement alljährlich in der Kornschütte statt. Zu Beginn waren wir uns nicht sicher, ob sich die "Babyboomer" für eine solche Veranstaltung überhaupt interessieren würden. Doch der Start war fulminant, weit über 1000 Besucherinnen und Besucher waren bei der Premiere dabei - und der Geräuschpegel war schon morgens um zehn Uhr gewaltig. Die Frauen und Männer der Generation 60plus steckten nicht einfach Prospekte und Flyer ein, sie waren im angeregten Gespräch mit den Freiwilligenorganisationen und wollten wissen, was denn zu tun wäre. Offensichtlich stimmt es: "Neugier kennt kein Alter", wie wir die Plakataktion von 2014 genannt hatten.

Kein Bürojob
"Altern in Luzern" war bewusst nicht als Altersleitbild, sondern als Entwicklungskonzept gedacht. "Neues soll ausprobiert und neue Erfahrungen sollen zuerst in Pilotprojekten erprobt und daraus Erkenntnisse gewonnen werden", hiess es im Bericht und Antrag an den Grossen Stadtrat, der - einigermassen skeptisch! - nur mit 21 zu 20 Stimmen bei drei Enthaltungen "zustimmend" Kenntnis nahm (siehe Box). Umso wichtiger war es mir, keinen Papiertiger zu zähmen, sondern konkrete Projekte anzupacken. Ein guter Projektmanager, so hatte ich mir bei einer Weiterbildung gemerkt, sitzt nicht in seinem Büro, sondern geht zu den Leuten. Das mussten sie mir nicht zweimal sagen. So lernte ich, das war nicht zu unterschätzen, zuerst die Stadtverwaltung von innen kennen. Denn Alterspolitik hat mit allen Lebensbereichen zu tun: Stadtentwicklung, Quartierarbeit, Integration, Bildung, Mobilität. So war es ein Glücksfall, dass zum Beispiel die Stadtgärtnerei - trotz Spardruck! - ohne Zaudern  beim Generationenpark oder beim Projekt Querbeet mitmachte.

Nicht im Büro sitzen, sondern hinaus gehen! Die Sitzungen fanden im "Ochsen"-Säli in Littau, im Restaurant "Tribschen" oder im "Quai 4" statt. Wir trafen uns im Kloster und im Betagtenzentrum, in Quartierbüros und im Kinderhort. Ich lernte bei den Quartierbegehungen das Café Klatsch, die Beiz beim SC Obergeissenstein und die Gassenküche kennen. Mit den Lesementorinnen waren wir zu Gast bei Regisseur Reto Ambauen im Theater Pavillon. Ich ging über Wartegg-Rippe und Hexenstiege; manchmal fühlte ich mich wie ein ethnologischer Stadtwanderer.

Geprägt haben mich aber vor allem die unzähligen Begegnungen mit Frauen und Männern der Generation 60plus: mit ihren Biografien, Lebenserfahrungen, ihrer Neugier und ihrem Engagement. So habe ich, um ein paar Namen zu nennen, Heinz Haldi, den ehemaligen Wirt im „Ochsen" kennengelernt, der Russisch spricht und mit grosser Begeisterung Reisen in dieses Land durchführt. Annemarie Pfyffer, die Grossmutter, die sich für den Spielplatz beim Generationenpark einsetzt.  Heinrich Bachmann, den ehemalige Raumplaner und heutigen Kunstmaler, der die Quartierbegehungen sachkundig und mit Herzblut begleitete. Oder die Musikförderin Ursula Jones, die zu unserem Anlass im Gesellschaftshaus der Maskenliebhaber eine mitreissende russische Musikerin mit ihrem Akkordeon mitbrachte (und die am gleichen Abend im KKL auftrat). Meine leisen Bedenken, die Partizipation der älteren Generation könnte sich als gerontologisches Hirngespinst erweisen, haben sich jedenfalls nicht erfüllt.

Ich kann nicht genau beziffern, wie viele Frauen und Männer im Verlauf der vier Jahre bei "Altern in Luzern" mitgewirkt haben. Wenn ich meine Adresssammlung konsultiere, komme auf ich 150 bis 200 „Aktivisten", die sich in einer Projektgruppe, bei Quartierbegehungen, bei Workshops, bei der Quartierforschung, bei den Lesementoren oder bei einem der konkreten Projekten beteiligt haben. Sie organisierten das Eröffnungsfest beim Generationenpark Hirtenhof, sie erarbeiteten den Fragebogen für die Quartierforschung in Littau, sie besorgten die rote Telefonkabine aus Deutschland, um sie beim Wäsmali-Träff als offenen Bücherschrank herzurichten. Sie führen viermal jährlich das Erzählcafé durch, gärtnern mit Kindern im Querbeet.

Auf der Suche nach Campingtischen
Später Nachmittag, in der Cafeteria des Betagtenzentrums Rosenberg. An vier Tischen sitzen eine Lesementorin oder ein Lesementor, zusammen mit je einem Primarschüler aus dem Maihofschulhaus. Sie treffen sich jede Woche, von 15.45 bis 16.30 Uhr. Die Kinder lesen und erzählen, fassen Geschichten zusammen, antworten auf die Fragen der Mentorinnen zum Textverständnis, machen gemeinsam Wortspiele. Es herrscht eine gelöste und doch konzentrierte Stimmung. Die Kinder heissen Akshian, Gokul, Gabriela oder Sharugau. Vierzig Frauen und Männer der Generation 60plus – die älteste Mentorin ist 84 Jahre alt – machen beim „Lesementoring" im Maihof und im Rönnimoos mit. Und einige weitere sind auf der Warteliste.

Sie tun es freiwillig. Sie tun es mit Freude. Sie tun es, um sich nützlich zu machen - und auch zu ihrem eigenen Vergnügen. Denn sie erfahren von den Lebenswelten der jüngeren Generation und leisten einen sinnvollen Beitrag zu Integration dieser Migrationskinder. Allein schon das Projekt Lesementoren war den Einsatz der letzten vier Jahre wert. Deshalb freut es mich besonders, dass die Stadt Luzern dieses Vorhaben weiterführt (siehe Interview mit Bettina Hübscher). Natürlich läuft nicht immer alles reibungslos. Ein Kind ist vor Weihnachten unversehens nicht mehr dabei, denn die Familie muss Hals über Kopf abreisen. Ein anderes fehlt dreimal unentschuldigt und darf nicht mehr kommen. Oder ich muss - im November! - unverzüglich drei oder vier leichte Campingtische aufstöbern, weil es den Lesementorinnen nicht zuzumuten ist, im Singsaal Rönnimoos jede Woche die schweren Tische zusammenzuklappen und zu versorgen. Für mich als Projektleiter war kein Tag wie der andere. Und sicher nie langweilig.

Luzern60plus lebt
„Altern in Luzern" war nicht als Beschäftigungstherapie oder Freizeitangebot für die ältere Generation gedacht. Vielmehr sollten die Ressourcen und Erfahrungen der Frauen und Männer der Generation 60plus stärker in das gesellschaftliche und politische Leben der Stadt einbezogen werden. Denn der demografische Wandel – in der Stadt Luzern ist ein Fünftel der Bevölkerung im AHV-Alter – eröffnet auch die Chance, eine neue Kultur des Alterns zu entwickeln. Nicht länger einfach Rückzug in den Ruhestand, sondern freiwilliges, lustbetontes Engagement im öffentlichen Raum. Aber lassen sich die Frauen und Männer der „Silver Generation", die sogenannten „Best Ager" und „Babyboomer" (und was der trendigen Namen noch mehr sind) überhaupt für das gemeinnützige Tun ansprechen? Sie sind doch schon heute mehr als genug beschäftigt: sie reisen und wandern, sind auf Velo- und Töfftouren, an der Seniorenuniversität und in der Schreibwerkstatt, hüten die Enkel, betreuen ihre eigenen, noch älteren Eltern. Und trotz alledem hat sich gezeigt: Luzern60plus lebt.

Doch diese Generation ist nicht einfach frei verfügbar für unentgeltliche Arbeiten. Wenn Partizipation mit dieser Altersgruppe gelingen soll, müssen aufgrund meiner Erfahrungen ein paar Rahmenbedingungen stimmen:

Konkrete Projekte anpacken. Die „Babyboomer" wollen sinnvolle, konkrete Projekte an die Hand nehmen, die gesellschaftlichen Nutzen versprechen und ihnen selber auch Spass machen.

Eigene Ideen umsetzen. Verpönt sind ausufernde, langweilige Sitzungen, an denen vor allem geredet und wenig beschlossen wird (das haben alle im früheren Berufsalltag zur Genüge erlebt); gefragt ist – auch von der Stadtverwaltung - Freiraum, um eigene Ideen selbstorganisiert und unkompliziert umzusetzen.

Soziale Teilhabe fördern. Im Rentneralter fehlen die Tagesstrukturen und die Arbeitskollegen. Das zivilgesellschaftliche Engagement schafft soziale Kontakte und ermöglicht neue Begegnungen. Kaum einmal fehlt jemand beim gemeinsamen Mittagessen nach den Arbeitssitzungen.

Wertschätzung zeigen. Wer sich im AHV-Alter engagiert, sucht nicht bezahlte Arbeit. Aber die Stadt Luzern muss, wie sie es etwa mit dem Neujahrsempfang im Rathaus macht, das zivilgesellschaftliche Engagement würdigen und durch ein "Freiwilligenmanagement" besser koordinieren und gezielt fördern. Dazu gehören Weiterbildungsangebote, Coaching oder gemeinsame (Kultur-)Ausflüge. Sie entschädigen für Fronarbeit.

Rentner - und was sonst?
Der Zufall wollte es, dass an meinem letzten Arbeitstag eine Sitzung mit der Redaktionsgruppe angesagt war. Die Webseite Luzern60plus betreuen wir in Eigenregie in einer Siebnergruppe von Freiwilligen. Die Resonanz ist beachtlich, den monatlichen Newsletter beziehen über 1200 Personen. Wir redeten über Kolumnen, Porträts, künftige Artikel. Und nachher gingen wir gemeinsam ins "Galliker", zur Feier des Tages mit einem Glas Weisswein zum Apéro. Als Neurentner schätze ich diese kollegiale Verbundenheit. Der Abschied von der Erwerbsarbeit, vom geregelten Tagesablauf und den Obliegenheiten des beruflichen Alltags fällt mir jetzt umso leichter. So habe ich mir als Projektleiter von "Altern in Luzern" selber eine schöne Ausgangslage für das eigene Altern geschaffen.

Und was nun? "Viele haben keinen anderen Plan, als nach der Pensionierung auszuruhen", schrieb der Wiener Soziologe Anton Amann.  "Wer kann zwanzig oder dreissig Jahre ausruhen, ohne dabei unglücklich zu werden?"  Ich werde, mit dem freiwilligen Engagement beim Marktplatz, in der Redaktionsgruppe und im Forum Luzern60plus, mit "meinem Entwicklungskonzept" verbunden bleiben - und trotzdem sehr darauf bedacht sein, die eigene Agenda nicht voll zu stopfen. Nicht umsonst hiess der Titel meiner Abschlussarbeit für das MAS Gerontologie "Rentner - und was sonst?". Daran gefällt mir vor allem das Fragezeichen. Es lässt viele Möglichkeiten offen.

* Markus Freitag, Anita Manatschal, Kathrin Ackermann, Maya Ackermann: Freiwilligen Monitor Schweiz 2016, 288 Seiten, Seismo Verlag 2016.

Das Entwicklungskonzept "Altern in Luzern"

Am 27. Oktober 2011 stand das Entwicklungskonzept „Altern in Luzern" auf der Traktandenliste des Grossen Stadtrates. Die Skepsis war in der angeregten Debatte mit Händen zu greifen. Es sei nicht vorrangig, solche Projekte zu lancieren, hiess es in der CVP-Fraktion. Die Ü60 gehörten nicht zum alten Eisen und könnten selber für sich schauen, es brauche kein befristetes Stellenpensum von 60 Prozent, nötig sei wieder eine „gesunde Eigenverantwortung". Bei der SVP-Fraktion blieb beim Lesen des Entwicklungskonzepts „das Gefühl hängen, dass aus Sicht des Stadtrates diese Generation als geistig nicht mehr genügend flexibel definiert wird". Viele dieser Massnahmen seien schon fast „als diskriminierend für die körperlich und geistig gesunde Rentnergeneration". Und die Fraktion der Grünliberalen erklärte, sie werde dem Bericht nicht zustimmen, denn für sie liege „der Fokus bei der Jugend für die Zukunft von Luzern" (Zitate aus dem Ratsprotokoll). Dafür votierten die FDP sowie das linksgrüne Lager. Mit 21 gegen 20 Stimmen (bei drei Enthaltungen) nahm der Grosse Stadtrat schliesslich zustimmend Kenntnis zum Bericht und bewilligte grossmehrheitlich einen Rahmenkredit 888 100 Franken; davon hatte die Stadt selber 235 000 Franken aufzubringen. Der Grossteil wurde durch die Stiftung Albert Koechlin und Legate finanziert. Anderntags hiess es in der "Neuen Luzern Zeitung": „Die Stadt setzt jetzt auf die über 60-Jährigen". - 12.3.2016