Die "Hermes Baby", ein Erinnerungsstück der sechziger Jahre. 

Was vom Leben übrig bleibt

Von Beat Bühlmann 
Die diesjährige Lebensreise «Erinnern und Vergessen» führt, mit sieben Vorträgen und fünf Filmen, in die unergründliche Welt unseres Gedächtnisses. Was bleibt? Was wollen wir lieber vergessen?

                  «Nun war ich also eingetreten in das Erinnerungsland.
                    Herr im Himmel, fängt so das Altern an?»
                                  Durs Grünbein, «Die Jahre im Zoo», 2015

Der Deckel klemmt ein wenig, doch alles funktioniert. Das Papier einspannen, den Wagen mit der schwarzen Rolle nach rechts schieben, den Zeilenabstand fixieren, das Farbband wählen - schwarz oder rot. Dann Buchstabe um Buchstabe niederschlagen, und die Schreibmaschine beginnt zu klappern. Der Abdruck ist blass, das Farbband ausgetrocknet. Aber die Wörter stehen. Nur mit Tipp-Ex könnte ich sie korrigieren. Oder ich müsste ein neues Blatt einspannen.

Ich habe meine «Hermes Baby» vom Estrich geholt, seit Jahrzehnten ist sie ausrangiert. Doch bei jedem Wohnungswechsel kam sie mit auf die Reise. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, sie zu entsorgen. Vor fünfzig Jahren habe ich auf dieser Schreibmaschine meine ersten Artikel für die LNN geschrieben: über die Gemeindeversammlung in Rothenburg, die Fussballspiele des FC Emmenbrücke, die Verschiebung des Viehmarkts von Luzern nach Sursee.

Alte Zeiten. Das Klappern der Schreibmaschinen ist längstens verstummt. Wir schreiben heute an smarten Laptops, lautlos und ungebremst; ein flüchtiges Medium. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, einen abgestürzten PC oder Laptop in der Dachkammer aufzubewahren. Hingegen meine mechanische Schreibmaschine: mit ihrem Klappern, Ratschen und Klingeln ist sie mit meiner Biografie verknüpft und ruft Erinnerungen wach.

Das Vergessen ist der Normalfall
Der Veranstaltungszyklus Lebensreise, ein Angebot der Abteilung Alter und Gesundheit der Stadt Luzern, ist dieses Jahr dem «Erinnern und Vergessen» gewidmet. Hilft das biografische Schreiben, das eigene Leben zu reflektieren? Ist die Jugend tatsächlich ein fremdes Land? Können wir Erinnerungsorte durch die Fotografie nochmals erlebbar machen? Welche Rolle spielt das Erinnern für das Zeitverständnis der Gesellschaft? Brauchen wir es, um die Gegenwart besser zu verstehen und so zukunftsfähig zu sein? Und ist es eigentlich ein Unglück, dass wir vieles aus unserem Leben längst vergessen haben? Wenn nein, warum fürchten wir uns denn so vor der Demenz, dieser Krankheit, die uns viele der Erinnerungen nimmt?

Nicht das Erinnern, das Vergessen sei der Grundmodus menschlichen Lebens, konstatiert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.* "Erinnern ist die Negation des Vergessens und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung, eine Auflehnung, ein Veto gegen die Zeit und den Lauf der Dinge." Das Vergessen ist der Normalfall in Kultur und Gesellschaft. «Vergessen geschieht lautlos, unspektakulär und allüberall, Erinnern ist demgegenüber die unwahrscheinliche Ausnahme.» Nicht auszudenken, wie wir leiden müssten, wenn wir nichts vergessen könnten.

Wie Bob Petrella, ein 68-jähriger amerikanischer Komiker, der nichts vergessen kann, wie im Tages-Anzeiger kürzlich zu lesen war. Der «Brain Man» ist unfähig, sich nicht zu erinnern. Er gehört damit zu den weltweit auf 60 geschätzten Menschen, die von einer Vergrösserung der Hirnregionen profitieren, die für das Erinnern zuständig sind. Den Verlust seines Handys kann Petrella zum Beispiel ohne weiteres verschmerzen; er kennt alle Telefonnummern auswendig. Natürlich würden wir es schätzen, wenn uns auf der Strasse umgehend der Name des freundlichen Gegenübers in den Sinn käme. Oder wenn wir stets wüssten, welches Passwort denn jetzt wieder das richtige wäre. Aber alles auf Abruf in unserem Gedächtnis speichern?

Das Vergessen gehört zum Erinnern
Unser Gedächtnis ist dringend angewiesen auf den Filter des Vergessens. Wer sich alle Details merken will, verliert den Überblick. Wer keine Kränkung vergisst, wird depressiv – oder zumindest nicht lebensfroh. Laut Studien merken wir uns doppelt so viele erfreuliche wie negative autobiografische Erinnerungen. «Indem es vergisst, schützt uns das Gehirn vor einem allzu kritischen Blick aufs Leben, auf uns selbst und die anderen», schreibt die Wissenschaftsjournalistin Katrin Blawat.

Erst das Vergessen schafft Platz für Erinnerungen. «Vergessen ist mit seinen Formen des Übersehens, Ausblendens, Ignorierens ein immanenter Bestandteil des Erinnerns, denn die Leerstellen des Vergessens sind konstitutiv für die Organisation jedes Gedächtnisses.» (Aleida Assmann) Gibt es demnach auch eine Kunst des Vergessens? Und was vergessen, was erinnern wir eigentlich? Assmann vergleicht das Gedächtnis, das über Erinnern und Vergessen waltet, mit dem Schaufenster, Verkaufsraum und Magazin eines Geschäfts: Weniges wird im Schaufenster ausgestellt, vieles ist im Innern des Ladens zu besichtigten, noch mehr ist im Keller deponiert und bleibt unserem Auge entzogen. Es muss auf bestimmte Stichworte warten, bis es noch einmal zum Vorschein kommt. «Auf manches kann man leicht zugreifen, weil es innerhalb einer gut etablierten Ordnung von Synapsen adressierbar ist; anderes muss man länger suchen oder darauf warten, bis es sich von selbst einstellt, und vieles bleibt für immer verloren.»

Während wir die Demenz, der Verlust unserer Erinnerungen, als Horrorvorstellung des Alterns fürchten, überladen wird das Internet mit Massen von persönlichen Eintragungen und Schnappschüssen, um das Leben zu fixieren. Den Überblick über unsere Handyfotos haben wir längstens verloren. Nun sind wir dabei, wie in früheren Zeiten, mit (digitalen) Fotobüchern etwas Ordnung in der Erinnerungswelt zu schaffen. Fotografien, das war schon immer so, legen Spuren in die Vergangenheit: Das Tram, das über die Seebrücke fährt. Die Autos, die am Reussquai parkieren. Die Kapellbrücke, die brennt – sie helfen, Vergangenes greifbar zu machen, es vor dem Vergessen zu bewahren.

Die Spuren der Erinnerung
Vor ein paar Jahren habe ich begonnen, meine Familiengeschichte zu erforschen; eine typische Alterserscheinung. Versuchen wir mit der Ahnenforschung die eigene Biografie auf ein Fundament zu stellen? Der eigenen Endlichkeit etwas Bleibendes entgegen zu stellen? Warum sollten wir uns sonst die Mühe machen, stundenlang in alten Folianten und auf kaum lesbaren Filmrollen nach den Vorfahren zu suchen? Warum hat es mich berührt, als ich den handschriftlichen Eintrag zur Geburt meiner Grossmutter Marie Elisabeth Bucheli aufspürte, datiert am 17. August 1885?

Eines meiner aufgestöberten Familienfotos, vermutlich aus den Zwanziger- oder frühen Dreissigerjahren (Fotograf unbekannt), zeigt meine Grosseltern mit sechs ihrer Kindern; sie sitzen unter einem Baum auf dem Boden und sortieren Kartoffeln. Ein anderes zeigt sie vor einem prall gefüllten Heufuder, gezogen von einer Kuh. Auf beiden Kopien ist mein Vater, damals vielleicht zehnjährig, unschwer zu erkennen. Die Fotos öffnen mir ein kleines Zeitfenster, so dass ich mir ein Bild vom bäuerlichen Alltag meines Vaters machen kann. Was werden dereinst unsere Enkel- oder Grossenkelkinder von uns zu sehen und zu lesen bekommen? Werden sie unsere Dateien im Internet durchforsten?

Mit dem Internet, das die herkömmlichen Kultur- und Speichertechniken der Schrift und des Buchdrucks, des Films und der Fotografie auf den Kopf stellt, hätten wir uns eine neue «Gedächtnisprothese» zugelegt, glaubt Assmann. Sie würden die «Grundstruktur der Kultur dramatisch verändern». Aufgrund der starken Verbreitung digitaler Techniken sei nämlich das Vergessen zur Ausnahme und das Erinnern zur Regel geworden. Täglich sterben zum Beispiel 8000 Facebook-Mitglieder und hinterlassen mit ihren Datenfriedhöfen ein Erbe, das kaum zu sichten ist. Können wir aus dieser Flut von Lebensrückständen noch eine Biografie, eine Familiengeschichte destillieren?

Das Vergessen ist heilsam
Das Internet vergisst nicht. Was von uns in Servern und Clouds oder Smartphones lagert, ist kaum zu tilgen. «Niemand kann sich mehr darauf verlassen, dass Dinge, die längere Zeit zurückliegen, deshalb auch verblassen und allmählich vergessen werden», gibt Aleida Assmann zu bedenken. Auf die Gnade des Vergessens können wir nicht mehr zählen. Es könne lästig sein, wenn Namen oder Daten uns partout nicht in den Sinn kommen wollen, räumt die Publizistin Klara Obermüller ein. «Es ist aber auch heilsam, weil es uns aus dem Kerker traumatischer Erlebnisse befreit.» Erst das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen mache aus, «was wir im Rückblick unser Leben nennen». In ihrem anrührenden Buch «Spurensuche», einem Lebensrückblick in zwölf Bildern, zeigt Obermüller auf, warum es sich lohnt, in die eigene Vergangenheit einzutauchen und den Kern des eigenen Wesens zu suchen.

Es sind nur Spuren, die von einem gelebten Leben übrig bleiben. «Ein Foto, eine Brosche oder ein Möbelstück, ein Sprichwort, ein Rezept, eine Anekdote, das ist – wenn es hochkommt – alles, was von den Enkeln oder Urenkeln noch von dem einst prall gefüllten Leben ankommt», schreibt Aleida Assmann. Für die Rückstände eines Lebens, die in Kellern oder Dachböden einige Zeit überdauern, schlage früher oder später «die Stunde der Container». Dort wird vermutlich auch meine Hermes Baby früher oder später landen. – 28. April 2019

beat.buehlmann@luzern60plus.ch 

* Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2017.
Klara Obermüller: Spurensuche. Ein Lebensrückblick in zwölf Bildern. Xanthippe Verlage, Zürich 2016.
Alain Claude Sulzer: Die Jugend ist ein fremdes Land. Galiani Berlin, 2017. 

Lebensreise «Vergessen und Erinnern» (Teil 1) 

Donnerstag, 2. Mai 2019, 18.30 Uhr, Kleiner Saal im MaiHof in Luzern
Schreiben zum eigenen Leben. Mit Trudy Furrer-Estermann, Psychotherapeutin mit Schreibwerkstatt für kreatives und autobiografisches Schreiben

Donnerstag, 16. Mai 2019, 18.30 Uhr, Grosser Saal im MaiHof in Luzern
Was bleibt – vom Erinnern und Vergessen. Mit Klara Obermüller, Publizistin

Dienstag, 28. Mai 2019, 18.30 Uhr, im Kleinen Saal im MaiHof in Luzern
Erinnerungswelt Fotografie. Mit Simon Meyer, Fotograf und Geschäftsführer der Stiftung Fotodok

Mittwoch, 19. Juni, 18.30 Uhr, im Kleinen Saal im MaiHof in Luzern
Wer sich erinnert, bleibt zukunftsfähig. Mit Lisa Schmuckli, Philosophin

Das ganze Programm zur Lebensreise