Fernhalten

Von Karin Winistörfer

In der Theorie funktioniert es wunderbar. „Hee, nehmen Sie Ihre Goofen da weg!“, würde, zum Beispiel, ein untersetzter Mann schreien. „Ach, kennen wir uns?“, würde ich unschuldig flöten. Er würde aus dem Konzept fallen, etwas wie „Nein“ murmeln und von Dannen ziehen. Die allzu viel Ruhe Suchende im Bus, der Anwohner auf dem Spielplatz, die Fahrerin mit dem offenen Cabriolet im Stau, die nicht ertragen könnte, dass ich mit Veloanhänger an ihr vorbeiziehen würde: Sie alle würde ich mit meiner Allzweckwaffe schlagen. Irritation, Distanzierung, Abbruch.

Diese Strategie habe ich mir zugelegt, da ich schnell einmal merkte, dass sich beim Thema Kinder alle einbringen. Man könnte auch sagen einmischen. Oder aufdrängen. Und mit unerbetenen Ratschlägen oder Kritik eindecken. Jedenfalls ist nicht jede Begegnung mit einer unbekannten Person zwingend angenehm. Als Mutter im öffentlichen Raum verliere ich die sonst vorherrschende Anonymität als Passantin und bin exponiert, Kritik von allen ausgesetzt, welche das Kindeswohl durch ein anscheinend falsches Wort, eine offenbar unangebrachte Geste meinerseits in höchster Gefahr sehen.

Deshalb übe ich in Gedanken immer mal wieder ein: nicht darauf eingehen. Kühl bleiben, den Leuten bewusst machen, dass sie mein Leben, das meiner Kinder und mein Erziehungsstil nichts, rein gar nichts angeht. Auch die Kleider der Kinder, ihre Spielsachen, Bücher, die Haarfrisur, die Nasenform, die Sprechweise und das Verhalten sind nichts, das kommentiert werden muss. Auch ist es von aussen kaum möglich, beispielsweise eine Streitsituation adäquat einzuschätzen und beurteilen zu können, ob die Mutter oder der Vater nun richtig oder über-reagiert hätten.

Bis zu diesem Winter hatte es noch nie einen Ernstfall von einer gewissen Tragweite gegeben. Aber dann, vor wenigen Wochen, folgte ein grosser Praxistest, natürlich gänzlich unerwartet und unpassend. Denn eines Tages hatte der knapp vierjährige Sohn Fieber, das im Nu schwindelerregende Höhen erklomm. Teils über 42 Grad, dazu heftiger Husten und Übelkeit. Höchste Zeit für einen Arztbesuch, fand ich, und das fand auch die Praxisassistentin. Da der Kleine nur ein Bündelchen Elend war, befand ich, dass der Veloanhänger für einmal kein geeignetes Transportmittel sei. Knapp hatte der Patient noch im Kinderwagen Platz. Leider – ich war zeitlich eh schon knapp dran – hatte Letzterer keine Luft mehr. Also pumpen, und dann zusammen mit der sechsjährigen Tochter durch strömenden Regen und eisige Kälte Richtung Bus eilen. Die Anzeigetafel am Bahnhof machte mir schlagartig klar, dass nun Rennen angesagt war: noch eine Minute bis zur Abfahrt.

Die Fussgängerampel schaltete auf Orange, wir hetzten noch knapp durch. „Hee“, rief einer von hinten. „Da drüben ist die Polizei. Es war rot!“ Spassig wurde es beim Überqueren der Bus-Haltefelder, um zu unserem Perron zu gelangen. Links und rechts mussten wir den erhöhten Halteinseln ausweichen, mit dem Kinderwagen eine echte Slalomfahrt. Erstaunlicherweise waren wir aber sogar vor dem Bus da.

Ja, dieser hatte Verspätung - leider. Denn dadurch hatte ich das Vergnügen, den Rufer von vorhin kennen zu lernen.

Verbal griff er mich an, überfiel mich gewissermassen, wie ich mit kleinen Kindern bei Rot über die Strasse gehen könne – „Es war Orange, nicht Rot“, erwiderte ich. Dass ich hätte warten sollen – „ich bin in Eile“, erklärte ich. Und was wir eigentlich für eine Kinderstube hätten. - Kinderstube. Na sowas.

Ich hätte nun versuchen können, zu beschreiben, weshalb ich so in Eile war, dass der schwer kranke Sohn dringendst zum Arzt musste, dessen Praxis sich leider nicht gerade um die Ecke befindet, und wir kurzfristig einen freien Termin erhalten hatten. Dass ich, hätte ich diesen Bus verpasst, auch den Arzttermin verpasst hätte. Und dass ich mir ziemliche Sorgen machte um den Kleinen. Dass ich also gute Gründe hatte für mein Verhalten. Was er sich eigentlich auch hätte denken können. Denn die Leute überlegen sich normalerweise etwas bei dem, was sie tun, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht unbedingt erkennbar ist, vielleicht auch nicht auf den zweiten.

Doch ich sagte nichts von alledem.

Zum Glück. Denn nach den ersten zwei ungeschickten Antworten meldete sich rettend die eingeübte Strategie. „Auf Vorwürfe nicht eingehen, nichts Inhaltliches sagen!“ blinkte es vor meinem inneren Auge auf. „Nicht verteidigen, sondern abgrenzen!“ Na gut, dann mal los: „Wir kennen uns nicht, mein Leben geht Sie nichts an, und Ihres mich nicht“, sagte ich also ruhig und während ich ihm in die Augen blickte. Und schon ging es mir besser: nicht mehr in der Defensive zu sein, sondern Distanz zu schaffen. Er griff mich weiter an, immer wieder, hatte sich richtig festgebissen. Ich wurde zunehmend lauter und sagte dann nur noch: „Hören Sie jetzt auf. Hören Sie auf!“ Und ich fragte mich, was wohl mit einem Mann wie diesem los sei, der einer Frau mit Kinderwagen durch den strömenden Regen nachrennt, um ihr alle Schande zu sagen. Wollte er mich weinen sehen, um Vergebung bitten, vor allen anderen Passagieren zusammenbrechen? Tat es ihm gut, andere fertig zu machen, um sich besser zu fühlen? Oder vielleicht, um überhaupt etwas zu fühlen… Der nahende Bus machte es unnötig, mich zu fragen, ob ich ihm die Fragen stellen sollte oder vielleicht doch besser nicht.

Die Tochter reagierte auf die Szenerie verstört. Ich versuchte, das Verhalten aller Beteiligten zu erklären, mit begrenztem Erfolg. Der Sohn bekam von alledem nichts mit. Kein Wunder, hatte er doch, wie ich zwei Tage später erfuhr, eine Lungenentzündung. Die Allzweckwaffe Antibiotikum beseitigte innert vier Tagen sämtliche Angreifer. Ihre Taktik: Ein Wirkstoff schützt das Antibiotikum vor Angriffen der Bakterien, das Antibiotikum zerstört diese dann.

Die eigene Waffe schützen und dann mit dieser den Angreifer zerstören: Auch eine sehr gute, beeindruckende Strategie. Vielleicht nehm ich beim nächsten Rennen durch den Regen statt den leichten Knirps besser den grossen, stabilen Schirm mit seinem massiven metallenen Stock und der schön geschmiedeten Spitze mit…
23. März 2016

Zur Person
Karin Winistörfer, geboren 1974 in Biel, ist seit Herbst 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bildungs- und Kulturdepartement des Kantons Luzern. 2001 schloss sie das Studium der Geschichte mit dem Lizentiat ab. Bis 2012 war sie Journalistin und Redaktorin im Ressort Kanton der Neuen Luzerner Zeitung. 2012 bis 2014 absolvierte sie an der Universität Luzern einen Master in Methoden der Meinungs- und Marktforschung. Karin Winistörfer wohnt mit ihrem Partner und ihren zwei Kindern in der Stadt Luzern.