Die Bäuerin im Stadtgarten

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Für sie kam nur eine Wohnung im Parterre in Frage. Maria Koch Schildknecht braucht Bodenkontakt, sie muss jeden Tag in die Erde oder in die Blumentöpfe greifen können. Auch wenn sie seit 20 Jahren in der Stadtwohnung an der Cysatstrasse wohnt - im Herzen ist sie eine "leidenschaftliche Bäuerin" geblieben. Das Erdreich über der Tiefgarage ist zwar bestenfalls einen Meter hoch, aber sie schaut mit Herzblut auch zu diesem Flecken Erde. So bringt sie manchmal von ihren Velofahrten ein paar "Rossbolle" heim, um den kargen Boden zu nähren.

Den Besucher führt sie jedenfalls zuerst in ihren kleinen Stadtgarten: mit den zwei Äpfel-Spalierbäumen, der farbenprächtigen Blumenwiese, den wilden Rosen und der kleinen Linde mittendrin. Sie wurde 1914 zu Beginn des 1. Weltkrieges gepflanzt, musste aber vor ein paar Jahren ersetzt werden. Der Blick geht auf Spreuerbrücke und Reuss, eine Idylle in der Altstadt. "In diesem Frühjahr gehen wir nach England, um während einer Woche verschiedene Gärten anzuschauen", freut sich die Hobbygärtnerin. Dazu gehört auch ein Öko-Garten, den Prinz Charles entworfen hat. Maria Koch Schildknecht, 66-jährig, ist eine zierliche, quirlige Person - doch bestens geerdet.

Diplomierte Bäuerin
Das hat mit ihrer Herkunft zu tun. Maria Koch - man hört es - ist in der Ostschweiz aufgewachsen, auf einem Bauernhof in Bernhardzell mit Sicht auf den Bodensee. Sechs Kinder, die Grossmutter, ein Knecht aus Italien. "Bis heute liebe ich es, in einem Kuhstall zu stehen und diesen unverwechselbaren Geruch zu atmen." Selber wollte sie mit 17 Jahren eigentlich Kindergärtnerin werden, doch die Mutter wurde krank, gefragt war eine Haushaltshilfe. Mit 21 hat sie jung geheiratet; es musste ein Bauer sein, "etwas anderes kam gar nicht in Frage". Sie brachte zwei Kinder zur Welt, besuchte später während zwei Jahren die Bäuerinnenschule, die sie mit dem Diplom abschloss. "Ich wollte auch als Frau eine Berufslehre absolvieren." Nach 14 Jahren, das war 1985, liess sie sich scheiden ("ich war etwas dumm und zu gutmütig") und zog alleine mit der Tochter ins Wallis (der Sohn kam bald in die landwirtschaftliche Berufslehre). Sie fand eine Stelle an der Höhenklinik Montana, arbeitete zuerst an der Reception, dann als stellvertretende hauswirtschaftliche Betriebsleiterin - und lernte dort ihren späteren Mann Werner (80) kennen.

Um die die Ausbildung zur Betagtenbetreuerin zu erlernen zog sie nach Luzern, arbeitete als Fachfrau Betreuung im Betagtenzentrum Eichhof, bildete sich als Erwchsenenbildnerin weiter, um als Dozentin an der Schule für Betagtenbetreuung tätig sein zu können. Dann kam der "Rote Faden", der von der Albert Koechlin Stiftung getragen wird. 2003 begann Maria Koch das Pilotprojekt auf die Beine zu stellen, zuerst wurde die Beratung und Weiterbildung für Angehörige eröffnet, im März 2014 die Tagesbetreuung für Menschen mit Demenz. "Es war eine intensive, erfüllende Tätigkeit", sagt sie im Rückblick, "ich hatte eine starke emotionale Bindung an dieses Projekt." Doch sie war froh, vor zwei Jahren aufhören und in Pension gehen zu können. Das grosse Engagement hatte an ihren Kräften gezehrt. Viele mussten immer wieder überzeugt werden, dass es diese Form der Tagesbetreuung braucht. "Ich benötigte eineinhalb Jahre, bis ich erholt war", sagt Maria Koch, ohne etwas zu bedauern. Von neuen Projekten wollte sie damals nichts wissen. "Für ein Jahr will ich nur für mich Zeit haben und keine fremden Verpflichtungen eingehen", sagte sie in einem Interview. Lieber Russisch lernen oder jodeln.

Im Land der Birken
Keine fremden Verpflichtungen? Kaum sitzen wir am Tisch im Wohnzimmer berichtet Maria Koch von der Stiftung Raduga in Tarussa, einer kleinen Stadt 150 Kilometer südlich von Moskau. Dort  war sie inzwischen für dreimal drei Wochen im freiwilligen Arbeitseinsatz. Die Stiftung Raduga, von Projektleiter Jörg Duss, einem Schreinermeister aus Pfeffikon LU geführt, will den Ärmsten und Verlassenen einen Ausweg aus schwierigsten Situationen aufzeigen. Raduga ("Regenbogen") verteilt Essenspakete an einsame, arme Menschen; sorgt für gesunde Nahrungsmittel an den Schulen, damit diese selber eine Mittagsmahlzeit kochen können; führt ein Kleiderlager, wo sich Mütter noch tragbare Kleider und Schuhe besorgen können. Und in abgelegenen Dörfern werden die Ambulatorien modernisiert, damit sich die Bevölkerung bei leichteren Krankheitsfällen den Weg ins Spital ersparen kann.

"Die Leute leben einfach und sind doch glücklich", sagt Maria Koch. Bei ihren Arbeitseinsätzen geht sie den Leuten zur Hand, hilft im Garten, putzt die Datscha, leistet den alten Frauen Gesellschaft und hört sich ihre Geschichten an. "Ich schaffe gerne, bin ja auch eine Bauersfrau." Sie schlägt die Fotobücher auf, die sie auf dem Tisch bereit gelegt hat, erzählt von Tamara Michajlowna (79), die ihre Wohnung verloren hat und nun im Stiftungshaus leben kann. Von der einseitig gelähmten Maria (75), die in einem Haus lebt ohne fliessendes Wasser und mit der Toilette im Garten. Oder von Nina Grigorjewna (85), die Haus und Garten mit Hilfe ihrer Tochter besorgt und sich um ihren 55-jährigen Sohn mit geistiger Behinderung kümmert. Es sind diese Begegnungen, die Maria Koch glücklich machen - und die Liebe zu Russland. Die weite Landschaft, die Birkenwälder, die kleinen Holzhäuser. "Schon seit meiner Kindheit spüre ich eine Liebe zu Russland, seinen Kirchen, seinen Literaten, seinen Malern, seinen Volksliedern." Die Liebe geweckt hat in ihrer Kindheit ein "Mondo"-Bilderband über Russland. Später las sie Dostojewski und Tolstoi; dessen  monumentales Werk "Krieg und Frieden" hatte sie verschlungen, als sie noch nicht einmal 20 Jahre alt war. Sie geht einmal die Woche in einen Sprachkurs der Migros und kann sich inzwischen leidlich auf Russisch verständigen.

Die Freiheit geniessen
Doch Maria Koch lässt sich nicht mehr in das Korsett einer vollen Agenda einspannen. "Die Freiheit nach der Pensionierung ist wunderbar", sagt sie, "das möchte ich nicht mehr missen." Man glaubt es ihr aufs Wort. An zwei Tagen die Woche will sie am Morgen aufstehen, ohne an einen Termin gebunden zu sein - sondern einfach aus der Laune des Tages etwas unternehmen. Oder eben nichts tun. Sie ist gerne alleine unterwegs; 100 Kilometer mit dem Velo oder sechs, sieben Stunden zu Fuss in den Bergen. Von Freiwilligenprojekten will sie vorderhand nichts wissen. Das Thema Demenz hat sie "auf die Seite geschoben", wie sie sagt, für Referate und solche Sachen ist sie nicht zu haben. Stattdessen kümmert sie sich lieber um die Grosskinder, geht mit ihrem Mann einkaufen. Oder trifft sich mit ihren ehemaligen Weggefährtinnen von St. Gallen und Luzern. "Ich mache, was ich Lust habe*, sagt Maria Koch, "ich kann das Leben auf meine Art leben." Vielleicht stellt man sich so die glückliche Rentnerin vor. - 18.5.2016