Der Flaneur ist wieder unterwegs (13)        

Frischgebacken auf der Brücke

Von Karl Bühlmann

Auf dem reussseitigen Trottoir der Luzerner Seebrücke ist der Weg zum Bahnhof drei Minuten länger als seeseits. Es geziemt sich, alle paar Meter die Schritte zu verlangsamen und den fotografierenden Touristen nicht ins Bild von Wasserturm und Pilatus, Jesuitenkirche und Gütsch zu platzen. Schliesslich will – oder wollte einmal – Luzern zur höflichsten Stadt der Welt werden. Eine Aktion mit diesem Ziel ist vor Jahren von Luzern Tourismus angekündigt worden. Seither hat man nichts mehr davon gehört – und vor allem: Wer heute, da mehr denn je Gäste einmarschieren, auf einer der Luzerner Brücken flanieren will, tritt alleweil an Ort. Was auch sein Gutes hat, weil einem dann beim gebotenen Pausieren der eine und andere Einfall zufällt. Zum Beispiel, ob die Seebrücke noch zu Flaneurs Lebenszeit eine Schwester am unteren Ende der Stadt erhält, zwar nicht für Fussgänger, sondern für Fahrzeuge. Ersten pränatalen Diagnosen aus dem Stadthaus zufolge wird dringend und vorzeitig von der Austragung einer weiteren Brückenschwangerschaft abgeraten. Dafür Verständnis kann aufbringen, wer daran glaubt, dass die liebliche Fluss- , Strassen- und Bahngleisgegend zwischen Fluhmühle und Krematoriumshügel im 2078, zur 900-Jahrfeier der Stadt, dank aussergewöhnlichen, unersetzlichen und universellen Wert zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wird.

Auch die erste Luzerner Seebrücke hatte längere Geburtswehen durchzustehen. Sie war nach der Eröffnung des Bahnhofs 1859 nötig geworden, um die Güter und die Reisenden von einem Ufer auf das andere zu befördern. Bislang mussten alle Fuhrwerke über die Reussbrücke an der schmalsten Stelle des Flusses und durch die Gassen der Altstadt geführt werden. Touristen konnten sich von Schiffsleuten der St. Niklausengesellschaft zum Kapell- und Schwanenplatz rudern lassen, zum Preis von 30 Rappen. Damen mit grossen Hutschachteln und Herren mit Zylinder oder Diplomatenhut, dem sogenannten Nebelspalter, zahlten 20 Rappen mehr für die Überfahrt. (Diese Angabe verdanke ich den publizierten Studien von Franz Zelger-Schnyder von Wartensee (1864-1944), seines Zeichens einstiger Kriminalgerichts- und Korporationspräsident.) Vermögens- und Luxussteuern sind somit keine neuen Hüte! Die SBB wäre saniert, wenn alle Smartphone- und Laptop-User einen Aufschlag aufs Ticket bezahlen müssten.

In einem Wettbewerb für die erste Seebrücke standen Vorschläge mit Krambuden, Magazinen oder gar einem Restaurantpavillon in der Mitte zur Diskussion. August Bell aus Kriens schlug Ketten-und Bogenbrücke und alternativ eine Gitterbrücke vor, wozu allerdings das Haus zur Gilgen hätte geopfert werden müssen. Es gab in der Bevölkerung zwei Gruppen von Brücke-Befürwortern, die der „Obern Linie“ und die der „Untern Linie“. Letztere wollten die Seebrücke zwischen Hauptpost und dem (leider längst abgerissenen) Hotel du Lac in Richtung Kapellplatz führen. Diesem Projekt hätten Kapellbrücke und Sankt Peterskapelle weichen müssen. Schliesslich siegte der Entwurf eines Professors und Ingenieurs aus Lausanne, die Bürger genehmigen 1869 an der Abstimmung in der Jesuitenkirche das Projekt, das 670‘000 Franken kosten sollte. Die Urkantone befürchteten wiederum, wie schon bei der Errichtung des Reusswehrs, dass die neue Brücke den Wasserabfluss des Vierwaldstättersees stören und die von Schiller gelobten lieblichen Gestade unter Wasser setzen könnte. Der Kanton Uri verlangte gar den Abbruch der Kapellbrücke, weil – hört, hört! – diese „ohnehin keinen Anspruch auf Schönheit machen kann“. Vergeblich – die Kapellbrücke blieb bestehen und die Seebrücke wurde am 9. Juli 1870 eröffnet, wobei in der Proklamation nicht vergessen wurde, hinzuweisen, dass dies ausgerechnet am „485. Jahrestag der Schlacht bei Sempach“ geschehen sei.

Der Flaneur ist neugierig, wie die Diskussion um die noch vage Idee einer Vielleicht-Reussportbrücke ablaufen und enden wird. Eines weiss er aber bestimmt: Sollte diese Brücke gebaut werden, wird die Urkunde – falls überhaupt – im Wortlaut ziemlich anders lauten als das Schriftstück, das 1870 in den nördlichen Pfeiler der Seebrücke eingemauert wurde und unter anderem folgende Sätze enthielt: Möge sie dem Handel und Verkehr gewerbsamer Menschen dienen und möge es ihr von der Vorsehung gegönnt sein, in unserem engern und weitern Vaterland stets freie Institutionen, Friede und ein glückliches Volk zu sehen, das diese Güter zu schützen und bewahren weiss. Möge sie niemals andere Lasten zu tragen gezwungen werden als solche, welche den Wohlstand des Landes fördern. Wäre es für die aktuelle Diskussion zwischen den Parteien bekömmlich, diese gebetsartige Formulierung als Präambel auf das Papier zu setzen, welche die vom Grossen Stadtrat eben beschlossene Reduktion des Autoverkehrs um fünfzig Prozent für alle Ewigkeit festhält?

Es ist, nach so langer Warterei und Gedankenspielerei auf der Seebrücke, an der Zeit, beim Bäcker einzukehren. Die Gilde der Pfister hatte kürzlich am Wochenende wieder Hochbetrieb, wie man die Tage darnach wieder lesen konnte. So viele frischgebackene Nationalräte wie noch nie! Landauf und landab ist von den Frischgebackenen die Schreibe. Warum ist dieser Begriff in den Redaktionen und Korrektoraten – sofern es überhaupt solche noch gibt, vor Ort oder ausgelagert –nicht längst auf dem Index der dämlichen Ausdrücke? Sind die wiedergewählten Nationalräte bloss aufgebacken (weil vorher eingefroren) oder nachgebacken (zum Zwieback)? Knuspriger dank alter Kruste oder doch eher ausgetrocknet? Bekanntlich soll man altes Brot nicht wegwerfen. Wie kommt es aber, dass es stets den frischgebackenen Vater, den frischgebackenen Anwalt oder frischgebackenen Meisterlandwirt gibt, aber nie oder selten eine frischgebackene Mutter oder frischgebackene Hebamme und frischgebackene Bäuerin?

Ich getraue mich, beim Beck ein Meitschibei zu kaufen und frage gleichzeitig, ob es dieses-Chrömli weiterhin unter dem herkömmlichen Namen gebe oder ob ich demnächst, wenn es mir nach dem Nussgebäck gelüstet, nach Croissant viennois oder gendergerecht nach einem Glücksbringer fragen müsse. Die Verkäuferin hinter dem Ladentisch beruhigt mich: „Das Meitschibei bleibt Meitschibei, wir führen ja auch Spitzbuben.“ So ist zum Glück dem Gleichstellungsgesetz auch hier Genüge getan. Wer mir künftig beim Biss in die Haselnussfüllung mit einem Sexismus-Vorwurf kommt, den oder die schicke ich ins nächste Blumengeschäft und ermuntere ihn oder sie zum Kauf der Orchidee des Jahres 2020: Diese heisst nämlich Breitblätteriges Knabenkraut, ist stark gefährdet, hat purpurfarbene Blüten, kommt nur in Feuchtgebieten vor und leidet unter dem Klimawandel. Nicht auszudenken, wenn einem Breitblättrigen Mädchenkraut die gleiche Würdigung widerfahren wäre. Wird es aber nicht, da der Stendelwurz oder Satyrion der Gattung Knabenkräuter keine Schwestern hat.
5. November 2019

karl.buehlmann@luzern60plus.ch 

Zur Person
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.