Heinrich Wicki: Mit 90 als Vogelbeobachter im Gütschwald unterwegs

Es sind nur wenige Schritte von seiner Wohnung im Luzerner Bruchmattquartier bis zum Gütschwald. Dort ist sozusagen sein zweites Zuhause, mindestens zweimal täglich geht Heinrich Wicki immer noch strammen Schrittes über die Waldwege, bleibt plötzlich stehen, weil er einen Kleiber gehört hat. „Sobald man stehen bleibt, hören die Vögel auf zu singen“, sagt er verschmitzt. Und so ist es auch jetzt, auf unserem Rundgang. Nur Flip scharrt weiter im Laub. „Vögel beobachten fängt mit dem Hinhören an“, sagt Heinrich Wicki. Dann greift er zum Feldstecher, sucht in den Ästen und den Wipfeln nach dem Sänger. Sein abnehmendes  Gehört macht es in letzter Zeit etwas mühsamer, die Vogelstandorte zu eruieren. Nicht nachgelassen aber hat die Passion, die Freude, die er erlebt, wenn er einen Buntspecht oder eine Waldohreule, einen Eichelhäher oder eine Singdrossel entdeckt.

Kein Geld für ein Studium

Angefangen hat das Interesse an den Vögeln vor bald 85 Jahren im Toggenburg, als er als Bub von einer Holzbeige aus einen Nistkasten an einer Tanne beobachtete, in dem Stare brüteten. Und als dann in der Primarschule ein Lehrer 50 Tafeln mit Reproduktionen der einheimischen Vögel zeigte, da wurde aus Interesse Leidenschaft. Bald kannte Heiri alle Namen auswendig, suchte die Vögel in der Natur. Zum Beruf konnte der Bub sein Hobby allerdings nicht machen. Pfarrer sollte er werden, der Bäcker- und Beizersohn aus Stein im Toggenburg, Lehrer wollte er werden, doch das Geld reichte nicht für ein Studium, nicht mal fürs Gymnasium. „Mit einer geliehenen Schreibmaschine übte ich auf der Gemeindekanzlei das Maschinenschreiben.“ Weil diese Fähigkeit nicht unbemerkt blieb, wurde für ihn eine kaufmännische Lehrstelle geschaffen. Schon früh hatte er Freude bekommen, Verantwortung zu übernehmen. Als der Krieg ausbrach, war der KV-Stift plötzlich ein paar Monate alleine auf der Gemeindekanzlei, erledigte die Arbeiten aber zur Zufriedenheit der Bevölkerung. Lohn gab es damals noch keinen während der Lehre, der Gemeindeschreiber bezahlte ihm aus dem eigenen Sack am Jahresende ein paar Franken.

 Natur und Kultur in Paris

 Erholung und Ausgleich fand er schon damals im Wald. Doch auch die Weite lockte: Nach dem Krieg ergriff  Heinrich die Möglichkeit, in Paris bei einer Bank ein Praktikum zu absolvieren. Bei der Bank musste er auf Französisch Briefe beantworten, die wegen des Krieges zwei Jahre liegen geblieben waren. Auch in Paris faszinierte ihn anfänglich die Natur: „In einem Cabaret habe ich zum erstenmal eine blutte Frau gesehen“, erzählt er schalkhaft. Und in Paris entdeckte der junge Mann vom Toggenburg auch die Kunst, besuchte das Grand-Palais und die Opéra („drei Franken für den besten Platz“).  Nach einem Jahr – im Jahre 1948 – flog er von Paris an die Côte d’Azur, suchte Arbeit und fand keine, reiste weiter nach Genua, doch auch dort war kein Bedarf für den jungen Schweizer, erst in Chiasso gelang es ihm, seine Fähigkeiten so gut zu verkaufen, dass er eine Halbtagesstelle bekam. In der restlichen Zeit lernte er Italienisch, so dass er in drei Monaten fliessend sprechen konnte. Und in der Firma fand er auch seine künftige Frau. Anfangs der 50er Jahre fand er dann eine Korrespondenten- und Aussendienst-Stelle bei von Moos in Emmenbrücke, machte bei den Ersten und als Bester die Prüfung zum eidgenössisch diplomierten Handelsreisenden, später baute er eine Vertriebsfirma der von Moos in Reinach auf.

 Lieblingsvögel und Schönheitskönige

 Als er pensioniert wurde, machte er sein Hobby zum zweiten Mal zur Passion. „Ich ging ins Steinhof-Schulhaus, fragte im Lehrerzimmer, ob Interesse an ornithologischen Exkursionen bestünde, und zu meiner Freude waren die Lehrpersonen sofort interessiert.“ So kam es, dass er in den letzten 25 Jahren Dutzende Male sein Wissen weitergab, vor allem aber junge Menschen animierte, selber hinzuhören und hinzuschauen und sie für Umweltfragen sensibilisierte. Denn auch bei uns ist die Artenvielfalt gefährdet: „Allein in den letzten 25 bis 30 Jahren sind im Gütschwald etwa 20 Vogelarten verschwunden“, stellt Heinrich Wicki fest. Doch langsam hat auch bei den Forstverantwortlichen ein Umdenken begonnen: „Tote Stämme werden zum Beispiel nicht mehr alle weggeräumt.“ Gleich nachdem er das erzählt hat, klopft ein Buntspecht an einen toten Stamm, weiter weg krächzt eine Krähe. Er liebt auch die Raben, im Gegensatz zu vielen andern Menschen. Er schwärmt von ihrer Intelligenz, ihrer Schlauheit und Lernfähigkeit. Doch sein Lieblingsvogel ist die Singdrossel: Immer im Januar, wenn der Wald noch in winterlicher Ruhe verharrt, freut er sich, wenn er plötzlich die Singdrossel singen hört. „Sie ist die erste Sängerin im Jahr.“ Absoluter Schönheitskönig ist für ihn aber der Wiedehopf, doch der ist in unserer Gegend seit etwa 10 Jahren verschwunden.

Wetten, dass am 26. März, wenn Heinrich Wicki wie gewohnt im Gütschwald anzutreffen sein wird, die Rotkehlchen und die Buchfinken, die Buntspechte und die Blaumeisen, auch die Raben und die Zaunkönige zu seinem 90. Geburtstag ein besonderes Ständchen darbringen werden.  (14.3.2012)

 Hans Beat Achermann