Der Ochsenwirt entdeckt die russische Seele

Heinz Haldi nimmt sein Natel hervor, tippt auf die Taste und zeigt die SMS, die in kyrillischer Schrift bei ihm angekommen ist. „Guten Tag Heinz heisst das“, sagt er. „Von meinem Freund in Russland, den ich im Zug kennengelernt habe.“ Wir sitzen im Restaurant Ochsen und Haldi, der hier während fast 30 Jahren gewirtet hat, erzählt uns, wie es ihn im fortgeschrittenen Alter in die Weiten Russland verschlug. Wirtsleute, so glaubte man zu wissen, hocken doch eher am Stammtisch und kommen kaum hinter dem Ofen hervor. Oder sie jassen, wie die muntere Runde am Nebentisch.

Im Wirtshaus aufgewachsen
Heinz Haldi hat allerdings schon in seiner Jugend etwas aus der Art geschlagen. Nach seiner Lehrzeit als Koch im Astoria arbeitete er in Davos, Genf und in Stockholm, wo er Schwedisch lernte. „Ich reiste schon immer gerne in andere Regionen, um den Goût fremder Küchen zu schmecken.“ Wer kulinarisch überzeugen will, müsse sich auch für die Kultur interessieren. Haldi ist in einer Wirtsfamilie aufgewachsen. Seine Eltern wirteten in Luzern, er ist im Restaurant Krienbrücke und im Helvetia aufgewachsen – dort hat er auch seine Ehefrau Rita kennengelernt, die damals im Helvetia als Serviertochter tätig war. Später war Haldi Küchenchef beim legendären Robert Volz in der Frohburg, wo sie mittags bis zu 1000 Essen auf den Tisch brachten. Ende Oktober 1976 übernahm er den Ochsen, seit 1944 in Familienbesitz, von seinen Eltern, und dort hat er bis 2004 mit seiner Frau gewirtet. Heute führt Sohn Roland mit seiner Frau Irene das Gasthaus in vierter Generation. Zum Ochsen gehörte auch eine Metzgerei, mit zwei Filialen in Luzern.

Russisch im Einzelunterricht
Dass Heinz Haldi heute kyrillische SMS empfängt (und sie versteht), hat auch mit Hans Roth, dem Vater von Stadtpräsident Stefan Roth zu tun. Im Rahmen der Littauer 800-Jahrfeier von 1978 wollte die Gemeinde einen Kontakt zu Litauen im Baltikum herstellen. Zur Zeit des kalten Krieges bekam man aber keine Antwort. Deshalb begaben sich die drei ehemaligen Präsidenten des Abendzirkels Littau – zu ihnen zählte neben Heinz Haldi Hans Roth und Kaspar Geisseler – „auf eine abenteuerliche Reise“ über Helsinki, Tallinn (Estland), Riga (Lettland) nach Vilnius (Deutsch: Wilna), die Hauptstadt Litauens. Hier konnte dann auch auf politischer Ebene ein Kontakt zwischen Littau und Litauen geschaffen werden.

Bis 1989 gehörten die drei baltischen Länder wider Willen zur Sowjetunion. Die Amtssprache war Russisch. Offensichtlich waren für die Besucher aus dem luzernischen Littau die misslichen Verhältnisse nach jahrzehntelanger russischer Misswirtschaft, erinnert sich Haldi. Nach der Rückkehr gab es im Ochsen regelmässig „Baltische Abende“ und kulinarische Reisen etwa „Das Baltikum zu Gast – Kulinarische Köstlichkeiten von den Ländern am Bernsteinmeer“.

Haldi war fasziniert von diesen Ländern und begann Russisch zu lernen. „Wer ein Land kennenlernen will, muss die Sprache beherrschen“, sagt er, „sonst bleibt vieles im Verborgenen.“ Haldi schrieb sich beim Sprachinstitut Benedict zuerst für einen Schnupperkurs ein, drei Stunden für 70 Franken, dann ging der Ochsen-Wirt regelmässig zu seinem Lehrer in den Russisch-Unterricht, „von 11 bis 14 Uhr, das Mittagessen inklusive“. Später folgte ein dreiwöchiger Sprachaufenthalt bei einer Familie in Riga, die ihm viel von Russland erzählte und ihn mit der lettischen Kultur vertraut machte. Später reiste er mit seiner Frau dorthin, organisierte auch erste Gruppenreisen ins Baltikum. Am 23. August 1989, als es im Osten überall gärte, bildeten die Menschen der drei baltischen Länder eine Menschenkette über eine Länge von 600 Kilometer von Tallinn über Riga nach Vilnius und sangen gemeinsam ein Lied. Die singende Revolution. Im Frühjahr 1990 erklärten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit.

Als AHV-Rentner mit dem Rucksack unterwegs
Heinz Haldi erzählt abendfüllend und aus eigener Erfahrung. Nachdem er den Ochsen seinem Sohn übergeben hatte, war er immer wieder im Baltikum und in Russland unterwegs. Als er vor einem Jahr ins AHV-Alter kam, ging er auf die ganz grosse Trekking-Tour: Er packte seinen Rucksack, meldete sich für zwei Monate ab und war allein im Norden Russlands unterwegs: Von Petersburg ans Weisse Meer, mit dem Fischerboot zum Solovetski Archipel, bekannt als Archipel Gulag, durch Karelien mit Pilgern stundenlang im Bus auf holprigen Strassen, mit dem Schiff auf dem Stalinkanal (bei dessen Bauarbeiten hatten über 100 000 Zwangsarbeiter ihr Leben lassen müssen) nach Murmansk, die Kola-Halbinsel bis nach Archangelsk. „In diesen acht Wochen habe ich die russische Seele kennengelernt“, sagt Heinz Haldi.

Er begegnete Bären, ging auf eine siebenstündige Bergtour auf der Kola Halbinsel, querte militärisches Sperrgebiet, übernachtete in einem Kloster. Mit dem Natel war er mit seinem Reisebüro in Petersburg verbunden, musste regelmässig seinen Standort durchgeben – und sich auf eigene Faust durchschlagen. „Doch ich konnte mich immer auf die russische Gastfreundschaft und Herzlichkeit verlassen.“ Durch die Reisen in ferne Länder sei ihm bewusst geworden, in welch wunderbarem Teil unserer Erde wir lebten und dass wir dafür besonders dankbar sein sollten.

Das „Herz“ von Littau
Zu Hause im Ochsen-Saal berichtete Heinz Haldi mit selbstgedrehten Filmen im DVD-Format von seinen weiten Reisen, etwa beim Aktiven Alter vor 180 Besuchern. Mit freiwilligen Spenden aus diesen Vorträgen unterstützt er eine Schule in Tschibit, einem Dorf im südsibirischen Altaii-Gebirge. Es hat Ihn riesig gefreut, dass diese Klasse, sechs Mädchen und sieben Buben, mit dem Bild „Im Land des weissen Tigers“ einen Wettbewerb gewannen; das Bild war gemalt mit den Acrylfarben, die sie dank den Spenden kaufen konnten. Die Lehrerin Schanna verdient 350 Franken im Monat, ihr Mann Aduschi noch etwas dazu als Heizer des Schulhauses.

Der Ochsen ist als Wirtschaft mit Realrecht seit 1291 verbrieft. Über Jahrhunderte war er, neben dem Bad Rothen, die einzige Wirtschaft im Ort, 1891 wurde er sogar vorübergehend als Gemeindehaus genutzt. Auch der legendäre Abendzirkel, eine illustre Männergesellschaft, die sich zwischen Neujahr und Fasnacht jeweils am Donnerstagabend zu Vorträgen trifft, wurde 1852 im Ochsen gegründet. Und er findet immer noch hier statt.

Littau hat sich stark verändert, viel Kleingewerbe ist aus dem Dorfkern verschwunden. Bäckerei und Metzgerei sind geschlossen. Doch der Ochsen ist nach wie vor Treffpunkt für alle Bevölkerungsschichten. Nicht nur wegen der Küche, sondern auch als Zwischenhalt zum Wanderweg an der Kleinen Emme. Er ist das „Herz“ von Littau. Hier treffen sich ehemalige und aktive Kameraden der Feuerwehr, die Turnerinnen und Turner, Musikanten der Musikgesellschaft, der Jodelklub, Gewerbetreibende, Jugendorganisationen, das aktive Alter – und die Heimweh- und Urlittauer. „Und nach der Fusion hat die Stadt Luzern erstmals einen Ochsen auf ihrem Gebiet“, wie Haldi verschmitzt beifügt.

Was würde Heinz Haldi, der im Projekt „Altersgerechtes Quartier“ mitarbeitet, denn ändern in Littau? „Die Linie 12 der vbl sollte den Bahnhof Luzern mit dem Bahnhof Littau direkt verbinden, denn es besteht zu wenig Gleiskapazität, um alle Züge in Littau halten zu lassen.“ Denn die Quartiere in Littau Unterdorf seien extrem gewachsen, viele Pendler seien gezwungen, ihr Privatfahrzeug zu benützen, und das führe zu einem höheren Verkehrsaufkommen für die Stadt Luzern. Zudem, so Haldi, „würde für ältere Menschen ein Umsteigen bei der Haltestelle Schützenhaus entfallen, was besonders in den Wintermonaten gefährlich ist.“

Beat Bühlmann - 29.10.2012

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