Himmelwärts und überall hin

 Von Yvonne Volken

"Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin - Warum brav sein uns nicht weiterbringt." So hiess das Buch von Ute Eberhardt, das engagierte Frauen vor 20 Jahren mit Begeisterung gelesen haben. Stimmt diese These wirklich? Unsere Kolumnistin nimmt einen Augenschein bei jungen, "bösen" Mädchen und stellt fest: Frech sein reicht nicht. 

Die grösseren Mädchen tragen kein Rosa und kein Pink mehr, stelle ich fest, während ich auf dem Pausenplatz eines Luzerner Primarschulhauses meine Runden als Pausenaufsicht drehe. Sie rennen in Schwarz und Olivegrün herum. Sie nennen sich "Alte" oder "Bitch", motzen und schreien buchstäblich ohrenbetäubend. Sie rangeln sich um den Fussball, rempeln einander an und gehen kreischend zu Boden. Es sind ganz klar: freche, vorlaute, "böse" Mädchen, zumindest einige von ihnen. Ein Trumpf für ihren Lebensplan?

 Nach der Pause will die Lehrerin von den Kindern wissen, wie sie ihre Zukunft sehen: "Ich, in 20 Jahren", heisst das Aufsatzthema. Die Mädchen und Buben gehen in die 6. Klasse, sind jetzt 12- oder 13-jährig, werden 2039 also junge Erwachsene sein. Fast alle Kinder haben berufstätige Eltern: Die Mütter arbeiten als Verkäuferinnen oder als Pflege- und Reinigungshilfen und kümmern sich um Haushalt und Familie. Die Väter schuften auf dem Bau, sind Buschauffeure oder Gartenarbeiter. Viele arbeiten Schicht. 

 Die Buben gehen überzeugt ans Werk. "Ich, in 20 Jahren" - ganz klar: Sie werden Polizist sein, Gameentwickler, Informatiker, Bauarbeiter oder Profifussballer, schreiben sie. Vielleicht auch Mechatroniker oder Architekt. Schnell reich werden, das ist wichtig, das wollen sie alle und schöne Autos haben und grosse Häuser, grosse Hunde und viele Freunde. 

 Die Mädchen kommen nicht vom Fleck. "Welchen Beruf wirst du ausüben?", steht auf der Anleitung zum Aufsatz. Da sind die meisten ratlos. Ausser Milica* und Anjela*, sie wollen Lehrerinnen werden und Aria* sieht sich als Krankenwagen-Fahrerin. "Keine Ahnung", "Ist mir egal", "Nichts", schreiben einige und schauen sich kichernd um. Bei der Frage nach Hobbys und Familiein 20 Jahren aber geht's dann fix. Die Mädchen werden verheiratet sein, zwei Kinder und ein grosses Haus haben, vielleicht auch mehrere Hunde. Und sie werden auch noch mit ihrer BFE (Best Friend Ever) befreundet sein. (*Namen geändert)

 Es ist Mitte Mai. Vor wenigen Tagen ging Loredanas Karriere zu Ende oder erhielt zumindest einen deutlichen Knick. Loredana, Rapperin, platinblond und Instagram-Celebrity aus Emmenbrücke war für kurze Zeit Superstar und Idol der Mädchen. Nun der Absturz und die Mädchen nehmen zur Kenntnis: Sie ist offenbar ein durch und durch böses Mädchen. Kein Vorbild. Wer weiss, wo überall sie noch hinkommen wird... 

 Das Schicksal einer anderen ebenfalls platinblonden Frau, nämlich jenes von Doris Day, vollendet sich ebenfalls just in jenen Tagen. Die "Ikone einer heilsameren Zeit", stirbt mit 97 Jahren. Sie war –zumindest im Film – immer brav und proper und konnte sozusagen lächelnd mit den Augen zwinkern. - Ein "gutes" Mädchen. Prompt kam sie auch zu Lebzeiten schon in den Himmel oder zumindest dorthin, wo sich die "bösen" Mädchen aus der 6. Klasse hinträumen. Sie durfte in Luxusvillen leben, mit vielen Hunden, schönen Autos - und - zumindest im Film - den schönsten Männern ihrer Zeit. 

 "Que sera, sera…", mit diesem Lied wurde Doris Day in den 50-er-Jahren berühmt. Was sein wird, wird sein. Genau so sehen es die Mädchen der 6. Klasse auch und mögen nicht gross über ferne Zeiten brüten. Die Statistik aber weiss, dass ihre Zukunft nicht unendlich offen ist. Diese Mädchen mit Migrationshintergrund werden sich vor allem in eher schlecht bezahlten Berufen wiederfinden, insbesondere in Gesundheits- und Pflegeberufen. Sie werden als Coiffeuse oder Verkäuferin arbeiten, fast egal, ob sie vorlaut und frech und oder brav und angepasst sind. Denn, so wird im Bildungsbericht Schweiz 2018 festgehalten, sozioökonomische und soziodemografische Merkmale sind entscheidend für Bildungschancen. Mit anderen Worten: Schlecht integrierte Eltern in schlecht bezahlten Jobs sind für Kinder die grösste Hürde auf dem Weg, (beruflich) dahin zu kommen, wo Status und Geld zu Hause sind. Wenig Chancen für die "bösen" Mädchen also, überall hin zu kommen?

 Ach was, widerspricht Maria*, die einzige Lehrerin mit Migrationshintergrund im grossen Schulhaus. Sie mag den Begriff "fehlende Bildungschancen" nicht hören. Die motzenden Mädchen hier seien oft nichts weniger als kleine, faule Diven, die lieber vom "Mister Bombastic" träumten, als sich irgendwo durchzubeissen, schimpft sie. Echte "böse" Mädchen, wie sie selber eines war, boxten sich einfach gegen alle Widerstände durch - und zwar mit Leistung. 

 Spricht's, setzt sich ins neue, schnelle Auto und braust davon. Zum Frauenstreik, denn mit "Que sera, sera…" und"…the future's not ours to see"- und überhaupt mit Doris Day kann Maria definitiv nichts anfangen. Eher noch mit Michelle Obama. Obwohl die ja - Lesart Maria - vom "bösen" Mädchen, zur superreichen braven "Glamour-Lady" geworden ist. Aber damit kommt sie ja auch überall hin, oder? (*Name geändert)

 P.S. "Ich, in 20 Jahren" - diesen Aufsatz möchte ich selber nicht schreiben müssen! 2039 werde ich 83 Jahre alt sein. Ich werde dann wahrscheinlich froh sein über die Mädchen, die heute die 6. Klasse besuchen und die dann als Pflegefachfrauen bei der Spitex, als Coiffeusen und Busfahrerin arbeiten. Natürlich werde ich mich freuen, wenn sie nicht immer "brav" sind und vielleicht sogar am Frauenstreik in 20 Jahren teilnehmen, obwohl ich hoffe, dass es dann keinen Streik mehr brauchen wird, damit Frauen überall hin (ja, sogar in die Luzerner Regierung) kommen. 

yvonne.volken@outlook.com 

Zur Person:
Yvonne Volken, geboren 1956, hat alle zehn Jahre ihr Berufsfeld radikal verändert, arbeitete als Buchhändlerin, als Journalistin, als Projektleiterin bei der Stadt Luzern, als Literaturveranstalterin und gegenwärtig als Klassenassistentin an einer Primarschule. Ihr ursprünglicher Berufswunsch, Missionarin in Indien, ging nicht in Erfüllung. Heute stellt sie fest: Missionieren kann frau eigentlich überall.

6.Juni 2019