186gr_390x550-ID11245-815a081d02a937dc0722be1cbc7dd889.jpg„Ich lasse mich nicht aussortieren"

Von Beat Bühlmann

Der Saal im Institut Alter an der Berner Fachhochschule ist bis auf den letzten Platz besetzt. Angesagt ist Helga Rohra aus München. Sie redet 65 Minuten, es folgt die Pause, dann redet sie nochmals 50 Minuten. Das tun andere auch. Doch Helga Rohra, 62-jährig, lebt seit gut sechs Jahren mit der Diagnose Demenz. Genauer: mit der Lewy-Body-Demenz, mit einem Anteil von zehn Prozent die dritthäufigste Form der Demenzerkrankung. Als die Moderatorin beim einführenden Gespräch mehrere Fragen stellt, wird sie von Rohra sofort unterbrochen. „Zu viele Fragen für eine Demenzerkrankte", sagt sie, „ich kann nicht drei auf einmal beantworten."

„Schau, die Haussocke"
Helga Rohra sprach einst neun Sprachen und war eine gefragte wissenschaftliche Konferenzdolmetscherin - bis vor sieben Jahren. Da passierten Merkwürdigkeiten. Nach einer glatt verlaufenen internationalen Medizinkonferenz erhielt sie eine Woche danach vom Veranstalter die telefonische Anfrage für einen Nachfolgeauftrag. Doch sie konnte sich nicht einmal an den Kongress erinnern. „Alles war wie weggewischt", sagt Rohra. Und es wuchs das beklemmende Gefühl, dass „mit mir etwas nicht mehr stimmt".

Immer häufiger kamen andere Symptome hinzu. Beispielsweise fing ich mitten im Satz an, Wörter zu verdrehen. „Schau, da kommt der Hausmeister", wollte ich sagen – aber ich sagte: „Schau, die Haussocke." Ich konnte bestimmte Gegenstände nicht mehr benennen – wie heisst noch mal das Ding, aus dem das Salz herauskommt? „Oh Gott", dachte ich mir, „das kann ja lustig werden, wenn solche Versprecher am falschen Ort passieren!" Anfangs lachten mein Sohn und ich noch darüber, und wir begannen, diese „Perlen" aufzuschreiben.*

Wie auf einem fremden Planeten
Helga Rohra ist an der Veranstaltung in Bern sehr präsent, antwortet meistens ohne Umschweife. Nur hie und da zeigen sich kleine Unstimmigkeiten. „Jetzt habe ich vergessen, was Sie gefragt haben", sagt sie unvermittelt bei ihren Ausführungen. Oder sie hält kurz inne, greift sich mit beiden Händen an den Kopf, konzentriert sich und fährt dann mit dem Referat fort. Im Alltag wuchsen damals Unsicherheit und Angst. Sie sprach unverständliche Sätze beim Spazierengehen, hatte Mühe, ihre Strasse zu erkennen und heimzufinden. Sie konnte sich im Supermarkt nicht mehr orientieren, es war ihr nicht mehr möglich, am PC zu arbeiten oder sich im Internet zu bewegen. „In solchen Momenten drohte mich die Panik zu packen", sagt Helga Rohra. Sie begann handschriftlich ein „Ausfalltagebuch" zu schreiben.

Eines Tages raffte ich mich auf, unseren Keller aufzuräumen, damit meine Zwangspause bei der Arbeit wenigstens zu etwas nütze war. Als ich das Kellerabteil wieder verliess, fühlte ich mich wie auf einem fremden Planeten. In unserem Hochhaus muss man zwar um einige Ecken und lange Gänge entlang gehen, bis man zu seinem Kellerabteil kommt, aber ich denke, nicht mal ein Kind könnte sich dort verlaufen. Obwohl ich den Weg vom Keller zum Aufzug schon in den letzten Jahren wohl einige hundert Mal gegangen sein musste – an diesem Tag fand ich nicht sofort zurück. Ein beklemmendes Gefühl ergriff mich, ich spürte, wie Panik in mir aufstieg.

In einem schwarzen Tunnel
Nach sieben Monaten ging sie zu einem Neurologen. Denn sie litt zunehmend unter Halluzinationen und Orientierungsstörungen. Der Arzt sprach von einer Erschöpfung, empfahl ihr, spazieren zu gehen oder zur Erholung auf eine Insel zu fahren. „Ich war wütend, fühlte mich überhaupt nicht ernstgenommen", erinnert sich Rohra. Später, nach weiteren Untersuchungen in der Gedächtnisambulanz der Universitätsklinik München, sagte ihr ein Radiologe, sie solle sich keine Sorgen machen, „bei Ihnen ist es nur eine Depression". Tage später brachte es dann der Neurologe endlich auf den Punkt. Sie habe eine Lewy-Body-Demenz. „Ich habe sofort gewusst, was das bedeutet", sagt Helga Rohra. Als charakteristisch gelten fortschreitende Gedächtnisstörungen, ausgeprägte optische Halluzinationen; die sprachlichen Fähigkeiten werden hingegen häufig erst im späteren Verlauf beeinträchtigt.

Nachdem der Arzt mir meine Diagnose so gerade heraus in Gesicht gesagt hatte – er konnte ja nicht ahnen, dass der Radiologe mir gegenüber von einer Depression gesprochen hatte -, war mir, als ob ich falle. Ich sah mich selbst auf einer Rutsche, die in einem schwarzen Tunnel steil nach unten führte, immer weiter nach unten ... Ich fing an zu weinen. Jetzt, wo ich darüber schreibe, ist dieses Gefühl wieder da. Als ob ich jeden Augenblick wieder wegrutschen könnte. Ich möchte mich festhalten, aber an wem, woran?

Aus dem Schatten treten
Am Anfang habe sie nur geweint und das Ende vor Augen gehabt. „Ich wusste nicht, ob ich das nächste Jahr erreiche." Spätestens in fünf Jahre werde sie ein Pflegefall und dann müsse sie im Heim leben, hiess es. Doch sie lebt selbstständig in München, geht an Kongresse und Tagungen. Sie spricht englisch und deutsch, die beiden Sprachen, die sie als Kleinkind gelernt hat. Aber sie kann links und rechts nicht unterscheiden. Das Buch „Aus dem Schatten treten" hat sie mit Hilfe eines Schreibassistenten geschrieben. „Es gibt Tage, wo ich zittere, die Beine sich wie Beton anfühlen und ich kaum einen Schritt machen kann." Und da ist vor allem immer wieder die Angst, sich selbst zu verlieren. „Denn dann verlieren wir auch unsere Identität", sagt sie.

Nach dem Aufstehen und während des ganzen Vormittags spüre ich sie (die Demenz) sehr. Alles fühlt sich zäh an und selbst die einfachsten Dinge gehen mir furchtbar schlecht von der Hand. Ich stehe in der Küche und will mir einen Kaffee aufbrühen, ich halte die Filtertüte in der Hand und es dauert sehr lange, bis ich mich erinnern kann, wo die nun hinkommt. (...) Wenn ich mit meinem Sohn gemeinsam einen Tatort schaue, bekomme ich von ihm immer wieder eine Kurzzusammenfassung der letzten halben Stunde und kann so der Handlung gut folgen.

400 junge Demente im Kanton Luzern
Der Auftritt in Bern beeindruckt - und erstaunt das Publikum. Denn Helga Rohra passt nicht ins Bild, das wir uns von Demenzkranken machen. Demente sind nach gängiger Auffassung alt, pflegebedürftig, hilflos und abhängig. „Doch ich bin weder alt noch pflegebedürftig", sagt die 62jährige Rohra. Das Risiko einer Demenzerkrankung steigt zwar mit zunehmendem Alter stark an, nach 90 ist rund ein Drittel betroffen. „Aber was nützt ein geringes Erkrankungsrisiko, wenn man Demenz hat? Gar nichts", sagt Rohra. Die Demenz kann auch jüngere Personen treffen. So sind im Kanton Luzern, wo 5200 Personen mit einer Demenzerkrankung leben, über 400 Frauen und Männer im Alter von 30 bis 69 Jahren betroffen, wie bei der Alzheimervereinigung Luzern zu erfahren ist.

Helga Rohra ist willensstark und diszipliniert. Zum Einkaufen klebt sie Fotos der Lebensmittel auf ein Blatt und sucht sie dann im Laden. Sie markiert alles, was sie an einem Vortrag sagen will und schreibt es immer wieder auf. Neben ihr steht ein Flipchart, auf dem sie die wichtigsten Schlüsselwörter vorgemerkt hat. Rohra versteht sich als „Demenzaktivistin" und ist in Brüssel bei „Alzheimer Europe" engagiert. Sie kämpft als Frühbetroffene für eine Gesellschaft, die Demenzkranke nicht einfach fallenlässt.  „Ich habe Demenz, na und?", sagt sie. „Ich lasse mich nicht aussortieren." Demenz müsse als Behinderung akzeptiert werden, Teilhabe sei auch für Demenzkranke „der Kern der menschlichen Existenz".

Sie verweist auf Schottland, wo es seit zwölf Jahren im Parlament eine Demenzbeauftragte gebe. Sie wünscht sich „demenzsensible Quartiere", wo Polizisten, Bankangestellte, Taxifahrer, Hauswarte oder Verkäuferinnen für den Umgang mit Dementen geschult werden. Sie verweist auf die Niederlande, wo Demenzassistenten zur Verfügung stehen und zum Beispiel beim Kofferpacken helfen oder Demente auf eine Reise begleiten. Und sie lässt sich nicht mehr für einen Vortrag mit einer Tasse Cappuccino abspeisen, sondern getraut sich nun, ein Honorar zu verlangen. „Schliesslich verfüge ich als Direktbetroffene über Expertenwissen."

* Helga Rohra: Aus dem Schatten treten. Warum ich mich für meine Rechte als Demenzbetroffene einsetze. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, 2011.