„Bei uns wird niemand angebunden"

Von Beat Bühlmann

Der Garten ist ein lauschiges Plätzchen. Sicht auf Berge und satte Wiesen. Am Tisch unter den Bäumen bitten Heimleiter Werner Sägesser und Pflegedienstleiterin Barbara Jost zum Gespräch. Das private Alters- und Pflegeheim Unterlöchli befindet sich an der Stadtgrenze zu Ebikon; die Endstation der VBL-Linie 7 liegt in Sichtweite, nur wenige Schritte entfernt. Einige der Bewohnerinnen und Bewohner fahren selber mit dem Bus in die Stadt. Und kommen zurück, wie es ihnen gefällt. Im „Unterlöchli" wohnen 58 betagte Personen, vorwiegend Frauen. Das Durchschnittsalter liegt bei knapp 89 Jahren, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer zwischen zwei und drei Jahren. Der Anteil der Menschen, bei denen eine dementielle Erkrankung diagnostiziert ist oder welche Symptome aufweisen liegt bei rund 50 Prozent.

Mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht, das seit dem 1. Januar 2013 in Kraft ist, wird insbesondere auch der Persönlichkeitsschutz und das Selbstbestimmungsrecht von nicht urteilsfähigen Personen in Alters- und Pflegeheimen gestärkt. Dazu gehören der Vorsorgeauftrag und die Patientenverfügung, die erstmals national geregelt  wird. Und auch die freie Arztwahl sollte gewährleistet sein. Vorgeschrieben sind neu der schriftliche Betreuungsvertrag und der medizinische Behandlungsplan. Viel Papier, viel Bürokratie? „Nein", sagt Heimleiter Werner Sägesser, „wir haben keine Probleme mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht." Die Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner und eine gute Vertrauensbasis mit den Angehörigen sei im Unterlöchli schon immer ein grosses Anliegen gewesen.

Bodenmatratze statt Bettgitter
Was heisst das nun konkret? Was hat das neue Erwachsenenschutzrecht gebracht? „Im Hinblick auf freiheitseinschränkenden Massnahmen sind wir noch sensibler geworden", erklärt Pflegedienstleiterin Barbara Jost. Seit über zwei Jahren wird im Alters- und Pflegeheim Unterlöchli eine elektronische Pflegedokumentation geführt; dazu gehört, dass alle freiheitseinschränkende Massnahmen aufgezeichnet protokolliert werden. Bettgitter werden nur in absoluten Ausnahmefällen und in Absprache mit den Angehörigen hochgezogen, denn sie werden von den Betroffenen oft als Bevormundung empfunden. Unruhige Demenzkranke werden nicht an Stühle gebunden oder mit  Zewi-Decken eingeschnürt. „Lieber legen wir eine Matratze auf den Boden", sagt Barbara Jost.

Die persönliche Freiheit sei manchmal wichtiger als die absolute Sicherheit, sagt die Pflegedienstleiterin. Jeder Sturz, im Heimalltag auch bei sorgfältiger Betreuung immer möglich, wird jedoch dokumentiert, vom Heimleiter visiert und den Angehörigen (insbesondere bei Folgen) mitgeteilt. Auch die „Weglauf-Uhren", die beim Verlassen des vorgegebenen Rayons Alarm schlagen, werden nur beschränkt eingesetzt. „Wenn einer der Bewohnerinnen sich vorne beim Kreisel aufhält, soll das möglich sein – vorausgesetzt, die Angehörigen sind damit einverstanden." Es gilt stets, den Freiheitsdrang mit dem Sicherheitsbedürfnis abzuwägen - im Zweifelsfall zugunsten der Autonomie.

„Entscheidend ist für uns, dass wir die Angehörigen immer frühzeitig informieren und mit ihnen die Massnahmen absprechen", sagt Heimleiter Werner Sägesser. „Nur so können wir eine gemeinsame Vertrauensbasis schaffen und die Angehörigen mit ins Boot holen." Das helfe dann auch in schwierigen Situationen. Zwei Drittel der Bewohner kommen mit einer Patientenverfügung ins Heim, was die medizinische Betreuung und die Pflege erleichtert, wie der Heimleiter anmerkt. „Sie sind vor allem hilfreich, wenn ein Spitaleintritt nötig ist", sagt Sägesser. Wer ins Spital muss, wird vom Heimpersonal regelmässig besucht und begleitet. „Wir verstehen uns als Anwälte unserer Bewohnerinnen und sind für sie, ergänzend zu den Angehörigen, im Spital eine geschätzte emotionale Stütze." Im Gegensatz zur Patientenverfügung ist der Vorsorgeauftrag noch wenig verbreitet, im "Unterlöchli" sind nur zwei Bewohnerinnen damit ausgestattet (siehe auch Box am Schluss des Artikels)

Keine Magensonden legen
Auch bei der Ernährung gibt es keinen Zwang. Wenn ein Demenzkranker seinen Mund nicht öffnet und den Kopf abwendet (und so signalisiert, dass er keine Nahrung aufnehmen will), wird das respektiert. „Wir legen keine Magensonden, um die Nahrung auf diese Weise zu erzwingen", sagt Barbara Jost. Lippen netzen, die Haut cremen, für ein möglichst gutes Wohlbefinden sorgen, zum Beispiel mit Palliativ Care: so lautet die Alternative. Wer dem Tod nahe ist, muss nicht zum Essen und Trinken gezwungen werden. „In unserem Heim darf man sterben", sagt die Pflegedienstleiterin. Die Begleitung der Sterbenden sei ihnen ein besonderes Anliegen, bestätigt Heimleiter Sägesser.

Und wie steht es mit Exit? Es kommt vor, dass Frauen und Männer mit dem Ausweis von Exit ins „Unterlöchli" eintreten. Bis jetzt seien sie aber erst einmal im Vorfeld eines Eintritts mit dem assistierten Suizid thematisch konfrontiert gewesen. Doch wolle man in den nächsten Monaten, zusammen mit dem Personal und dem Vorstand, diese Frage grundsätzlich klären, sagt Werner Sägesser. Das Modell der Stadt Luzern (nun Viva AG), das klare Rahmenbedingungen setze, erachte er als ein gutes und praxistaugliches Modell.

In den eigenen vier Wänden
Die Frage der Autonomie zeigt sich jedoch nicht nur in existenziellen pflegerischen Fragen, sondern auch im Alltag. Sie wird im Unterlöchli gross geschrieben:  Alle können das Zimmer mit eigenen Möbeln einrichten, nur das Pflegebett ist Standard. Jeder, der will, hat TV im Zimmer; WLAN gilt für das ganze Haus. „Wer bei uns ist, lebt in den eigenen vier Wänden", sagt Barbara Jost. Die Essenszeiten sind relativ flexibel, zur Wahl stehen jeweils vier (mittags) oder fünf (abends) Menüvorschläge. Auch die Privatsphäre wird respektiert. Besucher können kommen, wenn sie wollen, müssen sich aber bei jedem Zimmer mit der Türglocke anmelden, das Personal klopft an, bevor es eintritt. Und die Bewohnerinnen können die Zimmer abschliessen.

Und auch die Bettruhe wird nicht stur gehandhabt. Wenn jemand erst um 23 Uhr ins Bett gehen will, schaut halt die Nachtwache, ob alles in Ordnung ist. Und auch das Aufwachen verläuft individuell. Das Morgenessen wird zwischen 8.00 und 9.30 Uhr in Form eines Frühstückbuffets präsentiert. Nach dem Umbau, der nächstens bevorsteht, werden dann alle Zimmer über eine eigene Dusche verfügen - heute gilt dieses Angebot nur für einen Drittel der Räume.
www.unterloechli.ch

"Noch Unsicherheiten"

Wie weit ist die Umsetzung des neuen Erwachsenenschutzrechts in Institutionen der Langzeitpflege bis heute erfolgt? In einer Evaluationsstudie hat das Institut Alter der Berner Fachhochschule Institutionen der stationären Langzeitpflege in den Kantonen Bern und Zürich zur Umsetzung in der Praxis befragt. Das Fazit: Die Institutionen haben sich intensiv mit der Umsetzung in der Praxis auseinandergesetzt und seien dabei "für dessen alltägliche Anwendung sensibilisiert worden". Dennoch gebe es Bereiche, wie beispielsweise die freiheitseinschränkenden Massnahmen, in welchen sich trotz hohem Stellenwert in der Praxis noch Unsicherheiten in der Umsetzung zeigten.  "So sei der Vorsorgeauftrag noch wenig bekannt. Die Herausforderungen bleiben, das neue Erwachsenenschutzrecht muss sich noch weiter in der Praxis etablieren", heisst es in der Studie. "Denn der selbstbestimmte Wille einer betroffenen Person kann nur berücksichtigt werden, wenn die Praxis mit genügend Ressourcen und gut vernetzt mit der Behörde zusammenarbeiten kann."

22.6.2015