Grenzstreit zwischen Jung und Alt

Von Hans Beat Achermann

In Zügen zeigen sich die Generationenunterschiede oft ziemlich konzentriert und manchmal arten die Differenzen in offene Konflikte aus. So auch am Muttertag, zwischen  Luzern und Zug. Eine junge Dame, vielleicht 22, am Smartphone, nicht tippend, sondern telefonierend. Es geht um einen epileptischen Anfall eines verwandten Kindes, also um etwas sehr Privates, das aber durch die Zugsumgebung natürlich nicht mehr rein privat bleibt, sondern eine gewisse Öffentlichkeit bekommt und unmittelbar Fragen aufwirft. Wann ist das Private so privat, dass es nicht an die Öffentlichkeit gehört, auch wenn keine Namen genannt werden? Wo ist das Private so harmlos, dass es öffentlich geäussert werden darf? Und wo ist – unabhängig vom Inhalt – die Lautstärke-Toleranzgrenze? Bekanntlich interessieren ja Unglücksfälle und Verbrechen, Krankheiten, Trennungen und Turtelgeschichten mehr als politische Statements oder Kunstkritiken, doch basiert dieses Interesse auf Freiwilligkeit. Doch im Zug sind Mitreisende gezwungenermassen Mithörende, Weghören ist beinahe unmöglich. Das erzwungene Hinhören ist bei den genannten Themen dann oft eine Mischung aus Boulevardlust und Fremdschämen.

 Für eine ältere Frau  jedenfalls war die Grenze zwischen Privat und Öffentlich bei der erwähnten Zugfahrt ganz woanders als bei der jungen Dame: Sie äusserte höflich ihren Unmut darüber, dass sie unfreiwillig zur Mithörerin von – ihrer Meinung nach – privaten Gesprächsinhalten wurde. Nach einem längeren Disput, der nur die Unversöhnlichkeit beziehungsweise das gegenseitige Nichtverstehen  förderte, verliess die junge Frau ihr Abteil,  setzt sich in unsere Nähe, nicht ohne die Ältere mit einer Schimpftirade einzudecken, die von „Schlampe“ über „Bitch“ bis zu „Figg di“ reichte.  Wieder am Telefon, setzte sie den Nettigkeiten noch eins obendrauf, indem sie laut die Vermutung äusserte, die Alte sei wohl eben erst aus der Klapsmühle entlassen worden und sie werde bei ihrem Vater die Krankengeschichte verlangen und überhaupt, sie sei Werkstudentin, was denn die eigentlich meine…  

Die flächendeckende Verbreitung von Smartphones fördert nicht nur die Kommunikationslust, sondern verschiebt auch Grenzen und Werthaltungen, die nicht nur – wie im geschilderten Fall – zwischen den Generationen verlaufen. Was früher im geschützten Raum einer Telefonkabine oder in einem Wohnzimmer für Fremde unhörbar geäussert wurde, dringt in neue Räume vor, erreicht Ohren, für die es nicht bestimmt ist. Viele stört das, viele nicht, andern ist es egal. Was tun? Der Toleranzbegriff taugt hier wohl nicht, Anstandspredigten sind démodé, Schweigen gefährdet die Gesundheit, Mediationsversuche werden als Kriegserklärung aufgefasst. Bleibt wohl nur der Kauf von Kopfhörern oder die Flucht in den Ruhewagen und die Hoffnung, dass wenigstens dort die deklarierten Spielregeln eingehalten werden, denn sonst ist der Ärger noch wesentlich grösser.

14. Mai 2015