Kreativität ermöglicht späte Freiheiten

Von Hans Beat Achermann (Text) und Josef Ritler (Bild)

Wer kreativ ist, schlägt der Zeit ein Schnippchen, denn schöpferisches Tun ist ein Hinaustreten aus der Zeit. Zukunft und Vergangenheit treten in den Hintergrund. Zudem verlängert – so die Forschung – das kreative Handeln die Lebenszeit. Das sind zwei der Kernaussagen, die der Wiener Soziologieprofessor Franz Kolland den rund 50 Zuhörerinnen und Zuhörern auf den Weg gab. Zuvor hatte er in seinem einstündigen, freien Vortrag verschiedene Kulturbegriffe erläutert und Altersbilder gezeigt, die schmunzeln liessen: „Die Zeit der beigen Alten ist vorbei, bunt ist angesagt.“ Von Freud über Pestalozzi ging es flott bis zu den Rolling Stones. Was Kolland damit zeigte: Der Kulturbegriff wandelt sich, und heute scheint mit der längeren Lebenserwartung klar, „dass je länger das Leben dauert, desto notwendiger wird eine kulturelle Betrachtung“.

Das Glück kommt mit dem Alter
Wir wissen heute, dass Lernen bis ins hohe Alter möglich ist, dass „Alter fluid ist und nicht einfach ein Abbauprozess“. Wer das erkenne, könne sagen „With age comes happiness“ , mit dem Alter komme das Glück. Doch um dieses Glück zu erreichen, müsse das Alter immer wieder neu erfunden werden. Wichtige Voraussetzung sei also die Bereitschaft zu permanenter Veränderung, „die Willigkeit, Neues auszuprobieren“. Die Betonung der Lebenserfahrung allein genüge nicht, diese müsse mit Aktivität verbunden werden, und auch der Hinweis auf das fortgeschrittene Alter allein genüge in der heutigen Gesellschaft nicht mehr, um Anerkennung zu erhalten. Kolland warnte aber auch, dass kulturelle Aktivitäten neben den neuen Freiheiten auch „Störungen“ und Irritationen auslösen können, ja vielleicht müssen – denn Kultur entstehe über Spannungen und Zuspitzungen.

Man muss kein Genie sein
Was aber ist eigentlich Kreativität? Kreativität beginne mit der Fähigkeit zur Improvisation, und zwar auch im Alltag, betonte Kolland. Die heutige Forschung unterscheide zwischen grosser Kreativität (big-c), wie sie Ausnahmetalenten oder Genies vorbehalten sei, und der Alltagskreativität (little-c). Gerade diese müsse gepflegt werden, denn sie stifte Ich-Identität, gebe Sicherheit, ermögliche es, gelassener auf Grenzen und Unsicherheiten zu reagieren. Jeder und jede möchte sich doch unterscheiden von den andern, und dieses Bedürfnis nach Distinktion sei vor allem über kulturelle Aktivität möglich. Das kann Schreiben oder Malen sein, Kochen oder Erfinden. Für all diese Aktivitäten spiele das Alter nur eine beschränkte Rolle. Wichtig seien vor allem Gesundheit und Bildung, aber auch das kulturelle Umfeld und die konkreten finanziellen Bedingungen können Einfluss auf die Kreativität ausüben. Und manchmal komme die Lust auf einen Kreativitätsschub von einem äusseren Ereignis: Leos Janacek komponierte seine wunderbare Sinfonietta mit 70, im Zustand grosser Verliebtheit.

(Das Referat im Wortlaut siehe Link)