Erica Ebinger - die junggebliebene Hochbetagte

„Ich sammle immer noch Kunst“, antwortet Erica Ebinger, als ich sie kürzlich in ihrem Lokal zum Kaffee treffe und frage, wie es ihr gehe. Das ist nicht weiter überraschend, denn als Kunstliebhaberin und -sammlerin habe ich sie immer gekannt. Warum sollte das jetzt, da sie 97 Jahre alt und so quicklebendig ist wie eh, nicht mehr so sein? Zumal sie doch vor Jahren schon ihre andere Leidenschaft, das Reiten, aufgegeben hat. Als ihr Pferd aus Altersgründen nicht mehr mochte, hat sie sich schliesslich entschieden, nicht nochmals ein Pferd zu kaufen.

Das Haus voll Kunst
Ein paar Tage nach dem Kafitreff, bei Erica in ihrem grün zugewachsenen Altstadthaus: Werke von Robert Schürch, Ernst Schurtenberger, Dieter Roth, Hans Schärer, aber auch Bilder noch lebender und jüngerer Künstlerinnen und Künstler bedecken die Wände. Nicht nur im Wohnbereich, nein, das ganze Treppenhaus ist voller Bilder und Objekte. Wie kam sie zu dieser Sammlung? „Ich konnte als Kind selber gut zeichnen. Später habe ich gemerkt: Das ist gutes Handwerk, aber keine Kunst. So fing ich eben an, Kunst zu sammeln.“

Bevor wir uns aufmachen ins Weisse Kreuz, wohin sie grosszügig zum Zmittag einlädt, schliesst Erica einen Stock tiefer einen weiteren Raum auf. Eine überdimensionierte Schatztruhe voller Kunst! Stapelweise auf Tischen, in Schubladenmöbeln, selbst auf dem Boden breiten sich die Werke aus. Und auch hier kaum ein weisser Fleck an den Wänden. Sachkundig kommentiert sie dieses Bild, jene Zeichnung, blättert in den Beigen, hebt fast zärtlich ein Robert Schürch-Aquarell aus einer Schublade. Dann zeigt sie auf eine grossformatige Darstellung des Gekreuzigten: „Das war eine Auftragsarbeit für eine Kapelle. Aber sie wurde nicht akzeptiert, weil Robert Schürch die Maria neben dem Kreuz mit einem roten statt des obligaten blauen Mantels malte. Und der Junge, der Modell stand für die Christusfigur, war ein jüdischer Junge.“ Sie lächelt still und schelmisch. Gut, wollte man das Bild nicht, scheint sie zu denken, jetzt ist es bei mir. Sie schliesst den Raum wieder ab, wir gehen zum Zmittag. Im Treppenhaus treffen wir auf einen Freund, der Erica besuchen will. Der wird gleich miteingeladen.

Die Künstlerbar
In der Bar Forni in Ascona hat das alles angefangen mit der Kunst, erzählt sie beim Essen. Da nämlich fand die junge Erica Ebinger in den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts – eben mit einer Luzerner Freundin von zu Hause ausgerissen – nicht nur einen Job als Serviererin. Da traf sie auch Künstler und Literatinnen, die in diesem Lokal verkehrten. Hermann Hesse hat sie ebenso kennengelernt wie Else Lasker-Schüler und viele weitere Persönlichkeiten der Kunst- und Literaturszene, die zu dieser Zeit im Tessin lebten. „Ich konnte zuerst kein Wort Italienisch. Und ich musste sieben Tage die Woche arbeiten“, erinnert sie sich. Bis eines Tages ein regelmässiger Gast der Bar Forni, ein Professor, für sie beim Arbeitgeber einen freien Tag aushandelte und ihr Ascona zeigte. „Da habe ich zum ersten Mal den See gesehen!“ Erica strahlt, als stünde sie gerade jetzt zum ersten Mal am Lago Maggiore.

In Ascona hat sie schliesslich den Künstler Robert Schürch kennengelernt, der in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. Er war ihr erster Partner. Sie haben auf damals unkonventionelle Art unverheiratet zusammengelebt, und sie hat ihn bis zu seinem Tod 1941 gepflegt. „Man wählt sich nicht gegenseitig, man fällt einander zu“, davon ist Erica überzeugt. Später hat sie sich um sein Werk gekümmert, hat Ausstellungen organisiert und zwei Bücher über Schürch herausgegeben.

 Die Medaille für Erica
An der Seite ihres zweiten Partners und Ehemanns, Sepp Ebinger, lag ihre eigene Kreativität nie brach. Es war damals stadtbekannt, dass meistens sie es war, die die Kostüme für die Luzerner Guuggemusig – gegründet 1948 von Sepp – schneiderte. Aber auch Sepps klassische Trenchcoats, in denen er zum Beispiel im Barbatti stets auftrat, waren Ericas Werk. „Ich habe schliesslich bei Maison Maas in Luzern schneidern gelernt und galt dort als die beste Zuschneiderin.“

Nicht sie, sondern der Freund, der zum Essen mitkam, erzählt die folgende Anekdote: Sepp Ebinger, legendärer Ausstellungsmacher im Verkehrshaus, wurde eines Tages von Direktor Alfred Waldis mit einer Medaille für sein Wirken ausgezeichnet. Vor viel Publikum. Dann hielt Waldis eine zweite Medaille hoch: „Die ist für Erica. Wir haben schon zur Kenntnis genommen, was sie an Sepps Seite geleistet hat.“ Erica, im Hintergrund am Ruhm ihres Mannes aktiv beteiligt. Doch selber davon zu erzählen, ist sie zu bescheiden.

Der Alpenritt
Viele Erinnerungen und Episoden später, assoziativ und nicht der Reihe nach erzählt, blitzt es nochmals in Ericas Augen. Sie muss etwa 75 gewesen sein, überlegt sie, als sie mit einer Gruppe von Reiterinnen und Reitern hoch zu Ross über drei Pässe ritt. „Also das war das schönste Erlebnis in meinem Leben, dieser Alpenritt!“ Zu ihrer körperlichen Fitness hat das Reiten sicher beigetragen. Dass sie sich diese bis heute erhalten hat, schreibt sie auch ihrer Wohnlage zu: Fünfter Stock ohne Lift. Täglich absolviert Erica heute noch dieses Fitnessprogramm, wenn’s sein muss mehrmals täglich.

Erica Ebinger blickt auf ein Leben zurück, das in dieser Fülle für ihre Generation, erst recht für ihre Frauen-Generation, ausserordentlich ist. Bewunderung dafür würde sie bestimmt nicht wollen. Respekt akzeptiert sie. Dass sie auch dank ihrem starken Willen dieses Leben so gestaltet hat, weist sie zurück: „Einen freien Willen gibt es nicht. Das war mir einfach so gegeben, das sind die Gene.“
Marietherese Schwegler  -  16. Juli 2012

Erica Ebinger ist am 30. Oktober 2015 im Alter von über 100 Jahren gestorben.