Zwischen den Welten

Von Marco Meier

Nein, leider nein. Das sanfte Lächeln der jungen Frau im Zugsabteil gegenüber gilt weder ihnen noch mir. Es scheint zwar auf uns gerichtet, zielt in Tat und Wahrheit aber auf elektronische Sphären in weiter Ferne. Zärtlich hält die Frau ihr Smartphone in der Hand, fast wie einst in der Mai-Andacht die Ordensfrau auf der anderen Seite des Kirchenganges ihr kleines schwarzes Gebetsbuch vor sich hatte. Jetzt kommen grad zwei Herren, setzen sich und holen mit präzisem Griff in ihre Tasche das Notebook hervor, legen es akkurat aufs Tischchen vor sich und sind bald schon heftig am Tippen oder Lesen. Ihre Haltung gleicht dem mittelalterlichen Mönch beim Malen von Miniaturen. Es hat etwas Religiöses, wie sich all die zeitgemässen Menschen heute scheinbar ohne Unterbruch in ihrer kommunikativen Wolke aufhalten. Steigen sie aus Bus oder Zug, geht der Griff schnurstracks wieder ans Gerät, als wär’s eine Art digitaler Kompass, der nach Innen und nach Aussen in jedem Augenblick den richtigen Weg zu weisen hat. Man will schliesslich auf Kurs bleiben – online ohne Unterbruch.

Der Blick dieser Menschen scheint die Unmittelbarkeit der realen Welt zu durchdringen. Kommt vielleicht doch einmal eine Wirklichkeit ins Blickfeld, die interessieren könnte, muss sie unverzüglich mit dem kleinen Gerät abgelichtet werden. Und wie sieht man eigentlich aus? Stimmt die Frisur? Sind die Lippen noch regelmässig rot? Ein Blick in den Spiegel ist unnötig. Man macht ein Selbstporträt (selfie) mit dem iPhone und ist beruhigt, noch durchaus der zu sein, als der man morgens das Haus verlassen hat. Auf dem Perron stehen sechs Asiatinnen beieinander, wie dies einst die Italiener in Gruppen taten, um sich zu unterhalten. Die Touristinnen starren aber alle stumm in ihre Smartphones. Klingeln hört man die Geräte immer seltener. Über die Ohrenstöpsel ist die Verbindung ohnehin permanent garantiert.
Ist das der neue Mensch? War das die leitende Idee hinter all diesen digitalen Kommunikationsmitteln? Hatten die Erfinder dieser Technologien nicht verkündet, den Menschen sollten Möglichkeiten geschaffen werden, all ihre Verständigungs- und Arbeitsprozesse schneller und effizienter zu erledigen, um endlich wieder mehr Zeit für das zu haben, was im Leben Sinn und Freude macht? Die Mittel zum Zweck scheinen sich zum Selbstzweck verdreht zu haben. Kulturkritisch hatte der Amerikaner Marshall McLuhan schon in den frühen 60er-Jahren gewarnt, die Medien würden bald selbst zur Botschaft, statt nur dazu zu dienen, Botschaften zu verbreiten. Es scheint noch radikaler gekommen zu sein. Schaut man sich um, dreht sich alles um diese kleinen Gerätschaften, als steckte in und hinter ihnen die eigentliche Wirklichkeit. Was wir einst Wirklichkeit nannten und als reales Leben empfanden, scheint zur Staffage verkommen zu sein.

Ist das jetzt der seit Jahren herbei geredete Clash der Generationen? Ein technologischer Epochenbruch quasi. Den französischen Philosophen Michel Serres (84) stimmt dieser „einschneidende Menschheitswandel“  alles andere als kulturpessimistisch. Die Eingeborenen der digitalen Welt (digital natives) nennt er liebevoll die Däumlinge, weil ihre prägende Geste der Wahrnehmung der flinke Daumen am Smartphone ist. Und er ist überzeugt, dass die eigentliche Revolution noch gar nicht stattfinden konnte. „Konkret und praktisch veranlagt, nehmen wir unweigerlich an, die Revolutionen fänden im Einflussbereich der harten Dinge statt.“ Der Satz stammt aus einer kleinen Schrift von Serres: „Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation.“ Serres glaubt, dass uns ein sozialer Wandel bevorsteht, der nur mit den Erfindungen der Schrift und später des Buches zu vergleichen sei. Der Philosoph erwartet ein völlig neues Verständnis von Zeit und Raum – und in der Folge grosse Erleichterungen für die Menschheit. Traurig stimmt ihn nur, dass er wegen seines fortgeschrittenen Alters wohl nicht mehr in den Genuss dieser Errungenschaften kommen wird. Uns allen empfehle ich dringend die Lektüre der kleinen Schrift von Michel Serres. Sie ist letzten Herbst auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen. Affaire à suivre! Da steckt viel Hoffnung drin.

Zur Person
Marco Meier, geboren 1953 in Sursee, ist Publizist und Philosoph. Als Chefredaktor der Kulturzeitschrift „du“, als Redaktionsleiter und Moderator der „Sternstunden“ beim Schweizer Fernsehen und als Programmleiter des Kulturradios DRS 2 hat er während 30 Jahren umfassende mediale Erfahrungen gesammelt. Marco Meier ist Mitglied des Vorstands der Kunstgesellschaft Luzern und sitzt im Stiftungsrat der Fotostiftung Schweiz. Er ist assoziierter Fellow des Collegium Helveticum der ETH und Uni Zürich und leitet seit Sommer 2012 das Lassalle-Institut in Bad Schönbrunn bei Zug. Marco Meier lebt mit seiner Familie in Luzern.