Mit Augenmass

Von Marco Meier

Wenn wir in den frühen 70er-Jahren als Gymnasiasten in der Natur Erholung suchten, wanderten wir gerne über den Sonnen- oder Dietschiberg, rannten um den Rotsee oder fuhren mit dem Fahrrad um die Horwer Halbinsel. Jeder dieser Wege führte vom Stadtrand her durch Quartiere von Einfamilienhäusern, Villen und Villetten. Es waren die „Mehrbesseren“, die hier wohnten. Etwas neidisch hatten wir über die präzis gezirkelten Buchsstauden geschaut. Es gab auch schon das eine oder andere private Schwimmbecken zu besichtigen. Aber irgendwie war dieser bürgerliche Luxus noch moderat. Es umwehte diese Liegenschaften ein Hauch nobler Zurückhaltung. Der Reichtum sollte den vorbeigehenden Zeitgenossen nicht mit jedem Gartenstuhl und Kandelaber vorgeführt werden. Vielleicht wachte da und dort gar noch ein Gartenzwerg über das Anwesen.

Ist das nun schon die berühmte verklärende Erinnerung, wenn mir heute ist, als hätten diese Liegenschaften damals meist einen gewissen Respekt vor der sie umgebenden Natur und dem Haus des Nachbarn erkennen lassen? Irgendwie ist mir ein harmonischer Rhythmus von besiedelter und freier Natur in Erinnerung. Und die Villen der besonders Wohlhabenden schienen sich hinter grossen Bäumen zu verstecken. Es dominierte, wie man heute Neudeutsch sagen würde, eine Architektur des Understatement. Die Horwer Halbinsel, St. Niklausen, Kastanienbaum waren diesbezüglich von geradezu vorbildlicher Zurückhaltung, fast, als würde der See diesen Gestus der Demut fordern. Dem war bis vor wenigen Jahren so. Selbst DJ Bobo wahrte noch einigermassen Augenmass mit seinem Anwesen über der Horwer Seestrasse, Geschmack hin oder her. Damit scheint es seit kurzem allerdings vorbei zu sein. Und zwar heftig. Grundstücke werden zerlegt und parzelliert verbaut, von denen es einst hiess, hier sei allenfalls ein Neubau erlaubt.

Die Dimensionen der gerade neu entstehenden Residenzen sprengen mehrheitlich jedes Mass. Und es sind nicht selten rohe Betonquader, die sich wie stumpfe Keile in die wohlgefügte Landschaft hauen. Noch unsensibler breiten sich davor Einfahrten in Tiefgaragen aus, als würden die Kavernen der Kriegszeit wiedererstellt. Ein schwarz eingefärbter Betonriegel erinnert an die Munitionslager in unseren Wäldern. Das alles tut weh, weil es so protzig daherkommt und sträflich jenen Respekt vermissen lässt, der einem über Jahrzehnte in der Gegend bei allem vorgestellten Reichtum versöhnlich stimmte. Bleibt nur zu hoffen, es entstehe hier nicht ein vergleichbares Tohuwabohu von Einfamilienhäusern, wie es über dem Felmis übergangslos Muster an Muster Geschmacklosigkeiten hiesiger Baukunst versammelt. Dass Reichtum je so stillos werden konnte.   (2. Juli 2012)

Zur Person
Marco Meier, geboren 1953 in Sursee, ist Publizist und Philosoph. Als Chefredaktor der Kulturzeitschrift „du“, als Redaktionsleiter und Moderator der „Sternstunden“ beim Schweizer Fernsehen und als Programmleiter des Kulturradios DRS 2 hat er während 30 Jahren umfassende mediale Erfahrungen gesammelt. Marco Meier ist Mitglied des Vorstands der Kunstgesellschaft Luzern und sitzt im Stiftungsrat der Fotostiftung Schweiz. Er ist assoziierter Fellow des Collegium Helveticum der ETH und Uni Zürich und leitet seit Sommer 2012 das Lassalle-Institut in Bad Schönbrunn bei Zug. Marco Meier lebt mit seiner Familie in Luzern.