"Schämt euch nicht!"

Von Beat Bühlmann

In der nationalen Demenzstrategie, die derzeit von den Kantonen umgesetzt wird, finde sich kein Wort zu Inklusion und Teilhabe, merkte der Gerontologe Carsten Niebergall zum Auftakt einer Careum-Tagung in Aarau kritisch an. "Menschen mit Demenz sind keine Bürger zweiter Klasse", so Niebergall. "Sie sollen in die Lebenswelt eingebunden sein wieder jeder andere auch." Doch ist das möglich? Oder sind Demenzkranke mit Inklusion und Teilhabe überfordert?

Michael Schmieder wandte sich, etwas polemisch, gegen die "Inklusionseuphorie". Der langjähriger Leiter der Sonnweid in Wetzikon - sie gilt als eine der innovativsten Pflegeeinrichtungen für Demenzkranke - setzte an der Tagung einen Kontrapunkt  zum vorherrschenden Trend in der Gerontologie. "Alle machen auf Inklusion, überall werden die Menschen mit Demenz ans Licht einer demenzversessenen Gesellschaft gezerrt und haben sich gefälligst an der Inklusion zu beteiligen", kritisierte Schmieder. Soziale Teilhabe habe auch etwas Perfides an sich, weil sie den Demenzkranken überfordern könne. Nur schon "Demenzcafé" sei ein schreckliches Wort. Statt auf Inklusion und Teilhabe setzt Schmieder  lieber auf "erlebte Beziehung". Seine Absage an die Inklusion blieb allerdings nicht unwidersprochen.

Nicht ausgrenzen
Der Wunsch "dazu zu gehören" sei gerade für Menschen mit Demenz "ein existenzielles Bedürfnis", betonte Stefanie Becker, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung (alz). Die Demenz dürfe deshalb nicht zur Ausgrenzung führen. Heute sei unser Verhältnis zu diesem facettenreichsten Phänomen unserer Gesellschaft immer noch weitgehend durch "einen pathologischen Blick" auf die Demenzkranken geprägt, während die soziale Wahrnehmung im Hintergrund bleibe. Das kommt nicht von ungefähr: Die 120 000 Frauen und Männer, die in der Schweiz an Demenz erkrankt sind, so Becker, "verschwinden in den Institutionen und in den Kernfamilien". Auch wenn das Tabu Demenz zunehmend aufgebrochen wird (wie jüngst wieder in einer Diskussionsrunde der SRF-Sendung "Club" ), sind Menschen mit Demenz in der Öffentlichkeit wenig sichtbar. "Demenz ist auch eine soziale Herausforderung", konstatiert die alz-Geschäftsleiterin Stefanie Becker. Sie fordert "Ermöglichungsstrukturen", zum Beispiel gemeinsame Begegnungsräume in der Nachbarschaft und im Quartier. "Gemeinsame Projekte führen zu Begegnungen und können beiderseits Ängste abbauen."

Engelberg wird  "demenzfreundliche Gemeinde"
Was das im Alltag heissen kann, verdeutlichte in einem eingespielten Kurzvideo eindrücklich die 68-jährige Corina Christen. Sie ist an Demenz erkrankt, geht aber trotzdem alleine ins Dorf zum Einkaufen, auch wenn das nicht immer einfach ist. "Schämt euch nicht!", sagt sie. "Wer sich versteckt, bekommt noch weniger Impulse aus dem Leben." Mit dem Projekt "Demenzfreundliche Gesellschaft" will die Alzheimervereinigung die Demenzkranken und ihre Angehörigen ermutigen, stärker am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen - sie könnten so auch zur Sensibilisierung der Bevölkerung beitragen. In der Zentralschweiz ist Engelberg OW eine der Pilotgemeinden, die den betroffenen Menschen und ihren Angehörigen "ein sozial eingebundenes Leben" ermöglichen will, wie es im Gemeinde-Info heisst. In diese Richtung zielt auch das Projekt "Zugehende Beratung" im Kanton Aargau, über das Case Managerin Irène Taimako-Fischer berichtete. Die Beraterinnen machen Hausbesuche, informieren und vernetzen, helfen bei der Bewältigung des Alltags, ermöglichen Austauschrunden mit Betroffenen. "Sie seien jetzt erstmals richtig angehört und verstanden worden, hören wir bei unseren Gesprächen oft von den Demenzkranken und ihren Angehörigen."  500 Familien haben während der vierjährigen Projektphase von diesem Angebot bis jetzt profitiert. Ob das Projekt 2017 weitergeführt wird, ist - aus finanziellen Gründen - noch offen.

"Aus dem Schatten treten"
Die Demenzkranken melden sich aber zunehmend auch selber zu Wort, zum Beispiel die Jungbetroffenen der Selbsthilfegruppe "Labyrinth", die an der Careum-Tagung dabei waren (siehe Foto). Sie alle waren vor der Pensionierung mit der Diagnose Demenz konfrontiert und treffen sich seit gut einem Jahr einmal monatlich zum Austausch in Olten. Sie wollen im geschützten Rahmen über den schwierigen Weg zu ihrer Diagnose und deren Folgen reden können. "Ich freue mich auf jedes Treffen", sagte die 56-jährige Rita Schwager. Sie ist eine von etwa 4000 jungbetroffenen Menschen mit Demenz in der Schweiz und hat die Selbsthilfegruppe initiiert. "Es ist gut einen Ort zu haben, wo wir uns mit anderen austauschen und über Alltagsstrategien reden können."

Grosses Vorbild für die Selbstbestimmung der Demenzerkrankten ist Helga Rohra aus München. In ihrem Buch "Aus dem Schatten treten" hat die ehemalige Dolmetscherin, die als  56-jährige Frau und Mutter mit der Diagnose Lewy-Body-Demenz konfrontiert war, ihre Leidensgeschichte eindrücklich geschildert (siehe auch "Ich lasse mich nicht aussortieren"). Sie versteht sich heute als Demenzaktivistin und kämpft, auch in internationalen Gremien, für mehr Gehör und Teilhabe für Menschen mit Demenz. "Demenzfreundlich ist zu wenig, wir wollen Inklusion und Teilhabe", sagt Helga Rohra in Aarau. "Denn wir wollen selber etwas bewegen."

Behinderte tragen ein deutlich höheres Risiko

Menschen mit Behinderung (oder mit Lernschwierigkeiten, wie es in Deutschland heisst) leben mit einem deutlich höheren Risiko, an Demenz zu erkranken, wie Christina Kuhn vom Demenzsupport Stuttgart an der Careum-Tagung berichtete. "Insbesondere Menschen mit Down Syndrom haben ein weitaus höheres Risiko als die Allgemeinbevölkerung, an einer Alzheimerdemenz zu erkranken." Bereits im Lebensjahrzehnt 50plus seien bei einem Drittel dieser Personengruppe Demenzsymptome zu beobachten. Das ist umso gravierender, als der Anteil der Senioren unter den Menschen mit geistiger Behinderung aufgrund der höheren Lebenserwartung innert zwei Jahrzehnten von 10 auf 31 Prozent steigen wird. In stationären Wohneinrichtungen wird bis 2030 jede zweite Bewohnerin (oder Bewohner) 60 Jahre oder älter sein, im ambulant betreuten Wohnen ein Drittel der Mieter zu den 60plus gehören. - 20. April 2016

 

Auf der Webseite von Careum Weiterbildung sind die Präsentationen zu den Referaten zu finden auf  http://www.careum-weiterbildung.ch/events

Michael Schmieder: Dement, aber nicht bescheuert. Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken. 219 Seiten, Ullstein, Berlin 2015.

Horst Christian Vollmar (Hrsg.): Leben mit Demenz im Jahr 2030. Ein interdisziplinäres Szenario-Projekt zur Zukunftsgestaltung. 256 Seiten, BeltzJuvena, Weinheim und Basel 2014.