Ältere Mitarbeiter werden in der Schweiz auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert

Von Beat Bühlmann*

 „Altersarbeit in den Kinderschuhen“ – unter diesem Motto stand letzte Woche eine Veranstaltung  von Avenir Suisse in Zürich. Altersarbeit in den Kinderschuhen - treffender kann man die Lage auf dem Arbeitsmarkt für ältere Frauen und Männer nicht zusammenfassen. Nach dem Ja zur SVP-Masseneinwanderungs-Initiative reden jetzt alle wieder vom Fachkräftemangel, 170 000 Stellen sollen in absehbarer Zeit unbesetzt bleiben. Nun sei es höchste Zeit, die Weiterarbeit bis 70 zu fördern - und überhaupt das Potenzial der älteren Generation besser zu würdigen.

Soweit waren wir auch schon. „Alte sind auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert“, habe ich im Juli 2002 einen Tagi-Artikel betitelt; ein Zitat des Altersforschers François Höpflinger. Die ältere Generation sei praktisch gezwungen, mit 65 aufzuhören, konstatierte Höpflinger. „Auch wer will, darf nicht weiter arbeiten.“ Das war vor 12 Jahren – und wie ist es heute? Nicht viel besser, wie im neusten OECD-Bericht zur Situation der älteren Arbeitnehmer in der Schweiz nachzulesen ist. Die altersbedingte Diskriminierung bei der Einstellung sei „nach wie vor verbreitet“, und diese Praxis sei in der Schweiz – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern - nach wie vor nicht verboten, wie die OECD kritisch anmerkt.

Nur ein Drittel der Firmen stellt ältere Mitarbeiter ein
Nur ein Drittel der Firmen stellt laut Adecco noch regelmässig ältere Mitarbeiter ein. Nur jede fünfte Person über 55 Jahre findet überhaupt wieder den Einstieg ins Arbeitsleben. Das ist verheerend, weil über 40 Prozent aller Kündigungen Arbeitskräfte über 50 betreffen und so vor allem die Zahl der älteren Langzeitarbeitslosen steigt. Zwar war die Erwerbsbeteiligung der 50- bis 64-Jährigen mit gut 70 Prozent noch nie so hoch wie heute. Doch in der Sozialhilfe wächst seit Jahren der Anteil der älteren Semester, wie der Sozialexperte Carlo Knöpfel festhält. Ältere Sozialhilfebezüger sind häufig wenig qualifiziert, leben alleine und haben mit gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen. Knöpfel fordert deshalb neue soziale Integrationsprojekte, die auch ihnen eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.

Das ist sozialpolitisch brisant: Wer im letzten Teil seines beruflichen Lebens aus dem Arbeitsmarkt fällt, von einem Tag auf den anderen ausrangiert oder mit einem Burn-out krankgeschrieben wird, wird kein frohes Alter erleben - und sich kaum für die Zivilgesellschaft engagieren. Das muss uns, angesichts des demografischen Wandels, auch gesellschaftspolitisch kümmern. 

„Man presst die Leute aus und lässt sie fallen“
Inzwischen hat das auch die Politik gemerkt. So hat der Ständerat vor kurzem ein Postulat von Paul Rechsteiner, Präsident des Gewerkschaftsbundes, gutgeheissen, der eine nationale Konferenz zum Thema „ältere Arbeitnehmer“ fordert. Zu viele hätten heute Angst, dass sie es nicht zum Pensionsalter schafften. Sie seien mental ausgelaugt, hätten keine Kraft, um sich mit ihren altersbedingten Defiziten auseinander zu setzen, hat Ökonom und Arbeitsexperte Ruedi Winkler beobachtet. „Man presst die Leute aus und lässt sie dann fallen.“ Auch wenn das vielleicht allzu pauschal tönt: Globalisierung, Automatisierung und Sparpakete verschärfen das Tempo und den Stress an manchen Arbeitsplätzen  – die neuesten Zahlen zum Burn-out der Lehrer sind ein Zeichen für die rauere Arbeitswelt. In einem solchen Klima hat jedoch niemand Lust, länger als unbedingt nötig zu arbeiten – und viele müssen das ja auch nicht: bei Novartis gehen 89% vorzeitig in Rente, bei Roche sind es 74 Prozent. Ich nehme an, bei komfortablen Bedingungen.

Bevor wir über ein höheres AHV-Alter reden, sollten wir vorerst die Arbeitsbedingungen ändern, damit sich nicht so viele ältere Frauen und Männer über die letzten Jahre und Monate hinweg quälen müssen. Ideen zur besseren Integration der älteren Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft liegen schon lange auf dem Tisch. Wir müssten sie nur noch umsetzen.

- Altersteilzeit: Die Arbeitszeit wird ab einem bestimmten Alter sukzessive auf 24, 20 und 18 Stunden reduziert, um eine gleitende Pension zu ermöglichen – allenfalls über das AHV-Alter hinaus.

- Alternative Karrieren: Die Kadermitglieder scheiden, wie bei ABB, mit 60 Jahren aus ihrer Funktion aus und sind dann als Senior-Consultants tätig. Oder sie stehen jüngeren Mitarbeitern als Mentoren zur Verfügung.

- Weiterbildung: Sie ist leider in vielen Betrieben ab 50 kein Thema mehr, doch ist es matchentscheidend, ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern und zu fordern, auch mit Schulungen und Umschulungen – Eigeninitiative immer vorausgesetzt.

Die Gewerkschaft Travail.Suisse hat übrigens soeben eine Bildungspolitik für ältere Arbeitnehmende thematisiert. Diese seien heute „ein blinder Fleck in der nationalen Bildungspolitik“. Die Gewerkschaft fordert Laufbahnberatung ab Vierzig und mehr altersgerechte Bildungsangebote. Innert zehn Jahren seien dafür  800 Millionen Franken zu investieren.

Natürlich ist es kein Naturgesetz, dass die Löhne bis zur Pensionierung jedes Jahr steigen müssen. Oder sich die Beiträge an die Pensionskasse mit höherem Alter massiv erhöhen und so die Chancen der Alten auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigen. Warum nicht einen altersunabhängigen Einheitssatz einführen? Und den Lohn nach Erfahrungen und Kompetenz, statt nach Dienstalter zu bemessen?

Generelle Lohnreduktionen im Alter finde ich allerdings auch verfehlt. Denn ältere Frauen und Männer haben oft mehr Sozialkompetenzen, sind lernfähig, loyal, weniger krank und oft effizienter als jüngere Angestellte. Kurz: Produktivität und Zuverlässigkeit sind unter dem Strich oft höher als bei den jungen Beschäftigten. Selbstverständlich gibt es Unternehmen, die das Generationenmanagement in der Praxis umsetzen. Bei der ABB gibt es die Kombination des aufgeschobenen Altersrücktritts mit der stufenweisen Pensionierung, auch die SBB wollen die flexibilisierte Pensionierung einführen. Und Swisscom setzt in ihrem Kundencenter für ältere Kundinnen und Kunden gezielt 50plus für die telefonische Beratung ein. Solche Modelle sind wichtig und haben Vorbildcharakter. 

Entscheidend ist jedoch, das Bild vom Altern und von den älteren Arbeitnehmern in unseren Köpfen zu revidieren. Noch immer gilt, was George Sheldon, Professor für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie in Basel, feststellt: „Firmen investieren lieber in junge als in ältere Mitarbeiter.“ Wir reden zwar gerne vom lebenslangen Lernen, aber Weiterbildung ist für viele bereits mit fünfzig ein Fremdwort – vor allem für die nicht so gut qualifizierten. So packen Personen ohne Abschluss sieben Mal seltener eine berufliche Weiterbildung an als ältere Frauen und Männer mit hohem Bildungsniveau. Diese Ungleichheit nach Qualifikation ist in der Schweiz doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt, wie die die OECD kritisiert.

Das heisst: in den Betrieben müssten sich Anreize für Weiterbildung oder Umschulungen insbesondere an Personen mit geringem Bildungsniveau richten.  Nötig wären frühzeitige Kompetenzbilanzen, also Standortbestimmungen, damit sie rechtzeitig den Beruf wechseln und allenfalls Zweitkarrieren starten können – auch danach in der Zivilgesellschaft.

Die Zivilgesellschaft stärken
Ich habe von der Erwerbsarbeit und vom Arbeitsmarkt gesprochen. Doch die  demografischen Veränderungen zwingen uns zu grundlegenden Fragestellungen. In den nächsten 40 Jahren, so das wahrscheinlichste Szenario, wächst der Anteil der jungen Rentnerinnen und Rentner, also die Gruppe der 65-79-Jährigen, um 53 Prozent, von knapp einer auf 1,5 Millionen Personen. Sie werden dann etwa 18 Prozent der Bevölkerung ausmachen (heute 12 Prozent). Und der Anteil der 80plus wird sich verdoppeln – auf 10 Prozent. Doch was machen wir eigentlich mit den 20 oder 30 Jahren, die uns nach der Erwerbsarbeit bleiben? Wie gestalten wir den letzten Drittel oder Viertel unseres Lebens? Welche Rolle übernehmen wir nach der beruflichen Tätigkeit? Wie finden wir den Sinn des Lebens abseits von Karriere und Lohnerhöhungen? Macht es glücklich, einfach auf der Ruhebank zu sitzen und allenfalls das Handicap auf dem Golfplatz zu verbessern?

Eine alternde Gesellschaft, davon bin ich überzeugt, kann es sich gar nicht leisten, diese Bevölkerungsgruppe ins politische Abseits zu drängen. Und umgekehrt können sich die Alten nicht länger vor der politischen und gesellschaftlichen Verantwortung drücken. Noch hält sich hier zu Lande das freiwillige Engagement der älteren Generation in Grenzen. Natürlich tragen unzählige Frauen und Männer der Generation 60plus wesentlich dazu bei, dass Angehörige gepflegt, Enkelkinder gehütet und Familien entlastet werden.

Doch insgesamt stagniert die Freiwilligenarbeit im Alter. Bei der informellen Freiwilligentätigkeit, also ausserhalb von Vereinen und Organisationen, fiel der Anteil der freiwillig Tätigen gemäss Freiwilligen-Monitor Schweiz (2010) ausgerechnet bei den 65- bis 79-Jährigen innert drei Jahren von 40 auf 31 Prozent zurück. Das ist nicht einfach böser Wille oder Desinteresse. Es fehlt oft an attraktiven Angeboten für das zivilgesellschaftliche Engagement. Mit dem Entwicklungskonzept „Altern in Luzern“ und dem Forum Luzern60plus versucht die Stadt Luzern das zu korrigieren. Nicht mit einem Obligatorium zur Freiwilligenarbeit, sondern mit dem stärkeren Einbezug der älteren Generation ins gesellschaftliche und politische Leben der Stadt. So tragen wir dazu bei, ein anderes Bild vom Alter, eine andere Kultur des Alterns zu entwickeln.

Projekte statt Leitbilder
Was heisst das konkret? Zum einen hat die Stadt Luzern den Seniorenrat durch das Forum Luzern60plus abgelöst. Dieses Forum, dem 60 Frauen und Männer angehören, ist politisch breit gefächert und nicht nach Parteiproporz aufgeteilt. Das Forum kann sich zu stadträtlichen Vorlagen äussern, zum Beispiel zur  Wohn- oder zur Sicherheitspolitik. Das Forum lädt Chefbeamte zu Werkstattgesprächen ein, etwa den neuen städtischen Polizeichef, oder besichtigt die Sportanlagen Allmend und die Swissporarena, um die ältere Generation über Sportangebote kundig zu machen.

Es gibt Arbeitsgruppen, so hat zum Beispiel die AG Wohnen ein Positionspapier zum Wohnen im Alter verfasst, das in die städtische Politik einfliessen soll. Das Forum versteht sich allerdings nicht einfach als Lobbygruppe für eigene Interessen. So ist eine Wohnraumpolitik, die auch mittleren und kleineren Einkommen eine Chance gibt, oder eine Verkehrspolitik, die Fussgängerinnen und Velofahrern mehr Platz gibt, ganz im Sinne dieser neuen Alterspolitik.

Zum anderen will das Entwicklungskonzept „Altern in Luzern“ die Erfahrungen und Ressourcen der älteren Generation stärker ins städtische Leben einbringen. Das hilft nicht nur der Generation 60plus. Dazu nur drei Beispiele:

- Wenn wir erkunden, was ein altersgerechtes Quartier ausmacht, profitieren auch Familien von stärkeren Nachbarschaften - siehe Erzählcafé oder Generationenpark.
-  Wenn wir mit dem Marktplatz 60plus, einem Umschlagplatz für neue Ideen und Projekte, das zivilgesellschaftliche Engagement fördern, finden Pensionierte  sinnvolle Tätigkeiten und gemeinnützige Initiativen freiwillige Helferinnen und Helfer.
- Und wenn Frauen und Männer der 60plus jede Woche während 45 Minuten mit einer Primarschülerinnen lesen und erzählen, leisten sie einen Beitrag zur Integration.

Eine andere Kultur des Alterns
Schön und gut, aber was hilft das, wenn ich Fachkräfte suche? Wenn es uns gelingt, mit konkreten Projekte eine andere Kultur des Alterns zu schaffen, wird das helfen, den demografischen Wandel nicht länger als Bedrohung, sondern auch als Chance  zu sehen. Und das wird die Gesellschaft und über kurz oder lang auch die Arbeitswelt verändern. Wenn die ältere Generation nicht länger als „Kostenfaktor“ in den Ruhestand abgeschoben und zur Passivität verurteilt wird, sondern als Akteur auf der öffentlichen Bühne willkommen geheissen und zum zivilgesellschaftlichen Engagement ermutigt wird, nützt das allen. Denn das schafft soziales Kapital, und an dem haben wir ja zusehends einen Mangel.   

Allerdings: die „neue Freiheit“ des Alters darf nicht ein Privileg der gut situierten Mittelschicht bleiben. Es ist eine der grossen Herausforderungen der Alterspolitik, auch Migrantinnen und Migranten, Langzeitarbeitslose oder Menschen in prekären Lebensverhältnissen zu ermöglichen, in Anstand und Würde älter zu werden. Aber das wäre noch einmal ein anderes Thema.
* Vortrag beim Netzwerk „Unternehmen Verantwortung“, vom 4. November 2014 im Betagtenzentrum Eichhof in Luzern.
www.verantwortung.lu