«Das Wohnen macht Spass»

Von Beat Bühlmann

«Ich habe im Stadtzentrum, wo ich vorher wohnte, in 20 Jahren nicht so viele persönliche Kontakte gehabt, wie hier in drei Jahren», sagt der 68-jährige Richard. «Auch mit jungen Mammis», wie er verschmitzt beifügt. Wir alle sitzen eng beisammen in der Bücherbox, einer kleinen Bibliothek im vierten Stock der neuen Wohnsiedlung Oase 22. Zum Tanzen sei er zu klein, räumt Richard ein. Doch für englische Konversation, für Lese- und Musikabende oder für den Austausch von Kinderbücher sei der Treffpunkt ideal. In jedem Wohnblock gibt es solche Gemeinschaftsräume.

Die «lebendige Nachbarschaft»
Die Oase 22 gehört - mit ihren 370 Wohneinheiten - zum neuen Stadtteil auf einem ehemaligen Industriegelände. Sie gilt als Pilotprojekt für soziale Nachhaltigkeit und wurde 2015 mit dem Wiener Wohnbaupreis ausgezeichnet. Die Oase 22 versteht sich als generationengemischtes Wohnquartier, mit zahlreichen Gemeinschaftsräumen und einem sogenannten «Skywalk», einem gemeinsamen Dachweg, der alle Gebäude verbindet. Dazu gehört auch ein geriatrisches Tageszentrum mit 30 betreubaren Wohnungen. «Das gemeinschaftliche Wohnen macht Spass», sagt der 44-jährige Stefan. Er wohnt in der Stiege 3, ist Vater von zwei Kindern. Im grosszügig angelegten Innenhof mit Spielplatz, Gärten und Bäumen können sich die Kinder austoben. Doch Richard fragt sich zuweilen, ob es nicht etwas leiser ginge. Auch die Obstbäume tun ihm  manchmal leid, wenn sie als Kletterobjekt herhalten müssen, wie der Pensionist sagt, der sich als Cerberus versteht. «Denn die Bäume sollen doch auch nächstes Jahr noch leben.»

Das Besondere an der Oase 22 ist die Begleitung des sozialen Prozesses für ein gemeinschaftliches Wohnen, das die Caritas Wien im Auftrag der drei Wohnbauträger übernahm: Während 20 bis 30 Stunden pro Woche war Magdalena Hubauer in der Wohnsiedlung präsent und versuchte eine «lebendige Nachbarschaft» zu organisieren. Mit Grätzelspaziergängen (in Wien ist der Grätzel ein Stadtteil), Tanzworkshops, Picknicks, Yoga- und Bastelgruppen, Generationentreffs. Oder eben mit einer Bücherbox. Es wurden Gemeinschafts-  und Hochbeete erstellt (und Workshops beim nahen Biogärtner organisiert); gemeinsam kämpften sie gegen die Verbotsschilder auf den Grünflächen, haben sie Spielregeln für Nutzungskonflikte erlassen. Ein eigenes Lokal vor Ort, wo wir uns von Magdalena Hubauer über das Quartiermanagement informieren lassen, ist niederschwellige Ansprechstelle und Kommunikationsdrehschiebe, ein Beirat mit Schlüsselpersonen fungiert als Vermittlungsstelle zwischen Mieter und Verwaltung. Wie sind die Erfahrungen? «Es hat sich innerhalb der Anlage nicht eine Gemeinschaft der Bewohnerinnen und Bewohner entwickelt, sondern mehrere Gruppen und Gemeinschaften, die sich in unterschiedlichen Kontexten treffen», heisst es im Abschlussbericht zum Pilotprojekt.

Ein Erbstück des «Roten Wien»
Doch wer kann sich das Wohnen in solchen Mustersiedlungen überhaupt leisten? Zum Beispiel Doris von der Stiege 3, 52-jährig, alleinstehend, ohne Auto. «In 20 Minuten bin ich mit der U-Bahn im Zentrum», sagt sie. Doris zahlt für ihre Wohnung von 70 Quadratmetern (plus eine Loggia von 13m2) eine monatliche Miete von 600 Euro. Zudem hatte sie einen Baukostenzuschuss (Darlehen) von 35 000 Euro zu zahlen; sie kann aber die Wohnung nach zehn Jahren erwerben. Solche Mietzinsen sind nur im Wohnwunderland Wien möglich. Pro Jahr investiert die Stadt Wien gegen 600 Millionen Euro in Stadterneuerung und Wohnbauförderung, wie Dieter Groschopf, stellvertretender Geschäftsführer des Wohnfonds Wien, der staunenden Reisegruppe aus der Schweiz erläutert. Auf diesem Amt arbeiten 85 Angestellte. Wien wächst unglaublich schnell, innert den nächsten Jahren von 1,8 auf über zwei Millionen Einwohner, doch das trägt - im Vergleich zu den anderen Bundesländern - eher zur Verjüngung bei, weil meist jüngere Menschen zuwandern.

Dennoch: Der Anteil der «jungen Alten» wächst in den nächsten drei Jahrzehnten um 26 Prozent, jener der Hochaltrigen um 96 Prozent. Pro Jahr werden ab 2017 mit einer «Wohnoffensive» 13 000 Wohnungen erstellt, davon 9000 mit Fördergeld. Die Mieten werden «gedeckelt», sie belaufen sich pro Quadratmeter auf 7 bis 8 Euro. Die Einkommensgrenzen sind grosszügig bemessen, auch ein Professor kann gemeinnütziger Wohnungsbau beanspruchen. «Es sollen möglichst viele von der städtischen Wohnbauförderung profitieren, so erreichen wir eine gute soziale Durchmischung», sagt Dieter Groschopf. «Der soziale Status soll nicht an den Wohnadresse abzulesen sein.»

Diese aktive Wohnbaupolitik ist ein Erbstück des «Roten Wien». Nach der grossen Wohnmisere um die Jahrhundertwende, als oft zehn Personen eine Wohnung teilten und die «Bettgeher» die Schlafräume im Schichtbetrieb nutzten, als die hygienischen Verhältnisse so katastrophal waren, dass die Tuberkulose als «Wiener Krankheit» bezeichnet wurde, da sorgte nach dem Ersten Weltkrieg das «Rote Wien» für eine völlig neue Wohnbaupolitik. Im Gegensatz zu den tristen Mietskasernen bestanden die Wohnungen nun mindestens aus zwei bewohnbaren Zimmern, alle Wohnräume, auch die Küchen, wurden natürlich belichtet. Die Gangküche wurde abgeschafft, ebenso die gemeinsame Wasserfassung (die sogenannte «Bassena»), da eine Spüle mit Fliesswasser nun zur Standardausstattung gehörte. «Die grossen Hausanlagen mit oft mehr als tausend Wohnungen ermöglichten ein gemeinschaftliches Wohnen», erklärt die Architektin Christiane Feuerstein. «Die kommunalen Wohnbauprojekte offerierten vielfältige gemeinschaftliche Einrichtungen wie Waschküchen, Badeanstalten, Kinderbetreuung, Vortragssäle, städtische Bibliotheken, Vereinslokale, Ambulatorien und Praxen zur medizinischen Versorgung.» Prunkstück dieser politischen Wohnoffensive war der Karl-Marx-Hof (1930 erbaut) mit seinen 1382 Wohnungen; alle mindestens 45 m2 gross, alle mit eigenem WC. Zur Siedlung gehörten Zahnklinik und Bücherei und die eigene Beratungsstelle für Inneneinrichtung.

Soziokratie im Alltag
Am meisten beindruckten mich bei der Exkursion in Wien jene Wohnprojekte, die bei der  Partizipation der Mieterschaft neue Wege gehen. Zum Beispiel das «Wohnprojekt Wien», das sich bewusst als Verein mit gemeinschaftlichem Besitz versteht (die Wohnungen werden nicht verkauft) und «soziokratisch» (statt basisdemokratisch) organisiert hat. Das heisst: nicht die Mehrheit entscheidet («keine Diktatur des Sitzfleisches»), sondern die Argumente. Zuständig sind in erster Linie die Arbeitsgruppen (etwa für Mittagstisch, Werkraum, Mobilität, Bibliothek, Spielraum, Sauna usw.). Nur ausnahmsweise wird die Grossgruppe (Vollversammlung) einberufen. Dabei kann bei einem schwerwiegenden Entscheid das Veto geltend gemacht werden, vorausgesetzt, ein besserer Vorschlag ist zur Hand. Und das «Wohnprojekt» sucht, im Gegensatz zu anderen, auch bewusst den Kontakt im Quartier: mit dem «Salon» (Beiz und Einkaufsgeschäft), mit dem grossen Gemeinschaftsraum (Initiativen für das bürgerschaftliche Engagement) oder mit den drei Gästezimmern (samt Küche). Jede und jeder hat sich im Übrigen für zehn Stunden pro Monat in einer AG zu engagieren, fürs Konfliktmanagement sind Ombudsstelle und Mediation vorgesehen.    

Eine ähnliche Stossrichtung verfolgt das Projekt «so.vie.so» im Sonnwendviertel beim neuen Hauptbahnhof. Die 110 Wohnungen werden selbstverwaltet, 11 Arbeitsgruppen kümmern sich um die zahlreichen Gemeinschaftsräume, etwa um den «Radlerraum» mit seinem 48 Plätzen (für 90 Euro im Jahr vermietet). Jede Etage hat seine Gemeinschaftsecke, auf dem Dachgeschoss - mit wunderbarer Sicht auf Wien! - ist die Gemeinschaftsküche zu mieten (20 Euro Spende pro Benützung). Reserviert und kontrolliert wird über Internet und Chip; wer trotz Verbot raucht, muss mit der Sperre rechnen. Doch das kommt selten vor, «denn die soziale Kontrolle klappt, weil man sich hier kennt», berichtet Edwin, einer der Hausbewohner. Der Beirat ist für drei Jahre gewählt, das Engagement in einer AG ist erwünscht, wird aber nicht zwingend vorgeschrieben. Flexibilität wird auch sonst gross geschrieben: Auf den vorgesehen Jugendkeller hat das Kollektiv verzichtet («Es gibt ja noch keine Jugendliche bei uns», sagt Edwin), stattdessen wurde - mal temporär - auf vielfachen Wunsch ein Fitnessraum eingerichtet.

Die Alten in der «Sargfabrik» 
Und wo wohnt denn die ältere Bevölkerung? Findet das GenerationenWohnen in Wien ohne die 60plus statt? In der «Sargfabrik», einem Wohn- und Kulturprojekt auf dem Gelände einer ehemaligen Sargtischlerei (an die noch ein grosser Schornstein erinnert), in dieser Sargfabrik wird das Thema Alter thematisiert. Ute Fragner und Gerda Ehs, beide um die Sechzig, haben das Projekt in den achtziger Jahren initiiert, 1996 wurde es fertig gestellt. Neben den 112 Wohneinheiten (mit 160 Erwachsenen und 50 Kindern) finden sich auf dem ehemaligen Fabrikareal eine sozialpädagogische Wohngemeinschaft, ein (Quartier-)Kindergarten, eine WG für Menschen mit Behinderung, eine Badehaus und ein «kulturelles Zentrum für Grätzel, Bezirk und Stadt» samt Beiz und Bar.

Die Pioniergeneration wird älter, der Altersdurchschnitt steigt kontinuierlich. «Wir möchten hier auch sterben können», sagt Ute Fragner, «doch beim Thema Pflegebedürftigkeit und Tod stehen wir erst am Anfang.» Immerhin haben sie entschieden, vorderhand keine Pflege-WG einzurichten. «Wir warten zu, bis wir sie tatsächlich brauchen, sonst müssten wir ja jetzt gezielt alte Menschen in die Sargfabrik holen.» Nur vier der 35 Personen, die seit dem Start dabei waren, haben die Wohnsiedlung verlassen: zwei sind gestorben, zwei zogen weg. Auch die eigenen Kinder sind inzwischen ausgeflogen, ob sie dereinst zurückkehren, ist offen. Und wie wird sich das Vorzeigeprojekt in den nächsten 20 Jahren entwickeln? «Das möchten wir auch gerne wissen», sagt Ute Fragner. «So oder so müssen wir lernen, los zu lassen.» 
Alle Infos und Links zu den Projekten

Und was ist in zehn Jahren?

Unter dem Titel "GenerationenWohnen" hat die Age Stiftung eine Gruppe von 17 Personen zu einer viertägigen Fachexkursion nach Wien eingeladen. René Fuhrimann, Geschäftsleiter von Vicino Luzern, war einer der Teilnehmer - das Interview

Welche Erkenntnisse hast du, auch im Hinblick auf das Projekt Vicino Luzern, in Wien gewonnen?
René Fuhrimann: Das war, finanzpolitisch gesehen, eine völlig andere Welt! Wien investiert jedes Jahr rund 600 Millionen Euro in den Wohnungsbau. Damit lässt sich natürlich in der Stadtentwicklung einiges bewegen und beim Wohnen mit der grossen Kelle anrichten. Es war höchst anregend, die verschiedenen Wohnprojekte zu besichtigen und von den ersten Erfahrungen zu hören. Extrem spannend wäre es, in zehn Jahren wieder nach Wien zu reisen und die einzelnen Schauplätze nochmals zu besichtigen, um zu sehen, was daraus geworden ist.

Du bist skeptisch?
Mir schien, dass die einzelnen Wohngruppen wie kleine Inseln ein Eigenleben gestalten und sich vom Quartier draussen eher abgrenzen, sich als kleine Stadt von der grossen Stadt absondern: mit eigener Bibliothek, Klettergarten, Schwimmbad oder gar einem Kino. Das ergibt zwar ein schönes Wohlgefühl und ermöglicht viel Partizipation. Aber der Bezug zum benachbarten öffentlichen Raum geht so verloren.

Wien legt grossen Wert auf die "soziale Nachhaltigkeit", auch auf das Quartiermanagement, um Partizipation zu ermöglichen. Was kann Vicino Luzern davon lernen?
Das lässt sich schwer miteinander verknüpfen. Was mir aufgefallen ist: Wir haben, vielleicht zwangsläufig, vor allem Wohnprojekte gesehen, die auf die jüngere Generation und den Mittelstand zugeschnitten waren. Das ermöglicht innovative Formen der Nachbarschaft, um beispielsweise Mieterbeiräte oder die Soziokratie im Alltag zu erproben; das hat mich fasziniert. Das hat allerdings zur Folge, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen eher ausgeschlossen werden. Jedenfalls sind uns wenig sozial benachteiligte oder ältere Personen begegnet. Im Gegensatz dazu versuchen wir mit Vicino Luzern vor allem auch mit der älteren Bevölkerung im Neustadtquartier unterwegs zu sein. (BB)

20.10.2016