Wie halten wir die Seele in Balance?

Von Judith Stamm

Dass wir uns um ein körperliches Gleichgewicht bemühen sollen, ist wohl allen klar. Entsprechende Angebote gibt es zuhauf. Von der eigentlichen Sturzprophylaxe über Yoga-Gymnastik bis zu Alters-Karate ist alles auf dem Markt. Und auch hier gilt nach wie vor die Maxime: „Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es!" Etwas anspruchsvoller ist es mit dem seelischen Gleichgewicht. Wie halte ich meine Seele in der heutigen Zeit in Balance?

Die Informationen überfluten uns und zwingen uns ständig zu einer Gratwanderung zwischen Gegensätzen. Es ist unglaublich, was sich heute tut: das Bewusstsein für das Wohlergehen der Umwelt, der Menschen, der Tiere wird immer schärfer. In der Schweiz werden wir sogar darauf aufmerksam gemacht, dass Käferarten aussterben!

Gleichzeitig nehmen wir ebenfalls mit geschärften Sinnen die weltweiten Tragödien wahr: Umweltkatastrophen, kriegerische Ereignisse, Terrorattacken, Ausbeutung von Natur und Menschen!

Auch im persönlichen Leben spielt sich ähnliches ab. Vom Morgen bis am Abend erlebe ich Positives. Pünktlicher öffentlicher Verkehr (meistens), freundliches Verkaufspersonal (auch im Weihnachtsstress), hilfreiche Nachbarschaft (an vielen Orten). Und gleichzeitig laufen im privaten Kreis die Hiobsbotschaften ein. Immer neue Meldungen über Krankheiten, Leiden, Abschied nehmen. Das Mitfühlen erschüttert mein Gleichgewicht oft gehörig.

Die digitale Welt, in die wir hineinwachsen, führt uns den Zwiespalt, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, drastisch vor Augen. War es nicht genial, was an „Cybathlon" zu sehen war? Ein von der ETH Zürich im Oktober 2016 organisierter internationaler Wettkampf für Teilnehmer mit körperlicher Behinderung zeigte, was mit Hilfe von bionisch konstruierten Apparaturen, roboterunterstützten Prothesen oder Gehirn-Computer-Schnittstellen an  Aufgabenbewältigung möglich ist, in Zukunft möglich sein wird.

Wie weit sich aber in Zukunft ältere Menschen in einem voll digitalisierten Umfeld, wo vom Blutdruck bis zum Inhalt des Kühlschrankes alles überwacht wird, wohl fühlen werden, ist für mich eine offene Frage. Die entsprechend eingerichteten Wohnungen für die „Autonomie des älteren Menschen" werden bereits angepriesen. Nicht heute und morgen, aber in absehbarer Zukunft werden sie im Angebot sein. „Totale Autonomie" heisst das Schlagwort. Totale Kontrolle wird der Preis dafür sein!

Wie bewahren wir da unsere Balance? Wie stärken wir die Fähigkeit, inmitten all der Informationen, Einflüsse und Möglichkeiten, die auf uns einwirken, stand zu halten?

Es ist die Widersprüchlichkeit, die uns zu schaffen macht. Wir sind wenig geübt, mit der Widersprüchlichkeit des Lebens umzugehen. Wir erstreben Klarheit, Ordnung, Übersicht. Diese wollen wir auch immer wieder herstellen. „Alles für die Katz" möchte ich in der heutigen bewegten Zeit kommentieren. Wie sagt doch Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898)  in seinem Werk „Huttens letzte Tage" kurz und knapp: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch!"

Was das alles mit dem Anbruch des neuen Jahres zu tun haben soll? Ganz einfach: so war es 2016, so wird es 2017 weiter gehen. Deshalb: Prosit Neujahr, und vor allem auf ein stabiles persönliches Gleichgewicht!
29.12.2016

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.